Washington (epd). Nach Jahrzehnten des Protests haben US-amerikanische Abtreibungsgegner ihr großes Ziel erreicht: Das Oberste Gericht der USA hat am Freitag sein historisches Urteil von 1973 zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gekippt. Das als „Roe v. Wade“ bekannte Urteil hatte Abtreibungen bis zur unabhängigen Lebensfähigkeit des Fötus legalisiert, mit der Begründung, Schwangerschaftsabbruch sei durch das Recht auf die Privatsphäre gedeckt. Das Urteil vom Freitag widerspricht dieser Auffassung. In dem Richterspruch mit sechs zu drei Stimmen hieß es, es gebe in der Verfassung kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. „Roe v. Wade“ sei aufgehoben, und die Entscheidung über Abtreibung liege bei den Bürgern und gewählten Volksvertretern.
Während Abtreibungsgegner „National Right to Life“ das Urteil als „großartig für noch nicht geborene Kinder und ihre Mütter“ feierten, kritisierten Befürworterinnen und Befürworter des Rechts auf freie Entscheidung den Richterspruch als eine Bestrafung von Frauen. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, warnte, republikanische Politiker planten nun Gesetze für ein nationales Abtreibungsverbot. In republikanisch regierten Bundesstaaten „wollen sie Ärzte verhaften, die reproduktive Gesundheitsversorgung anbieten“. Sie wollten „Frauen bestrafen und kontrollieren“. Der frühere Präsident Barack Obama beklagte, das Oberste Gericht habe eine „zutiefst persönliche Entscheidung“ der „Laune von Politikern und Ideologen“ ausgeliefert. Manche Kritiker befürchten, mit der Logik des Urteils werden republikanische Politiker weitere Urteile des Obersten Gerichts anfechten, etwa das von 2015 zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.
Menschenrechtsorganisationen reagierten entsetzt. „Der Zugang zu Abtreibung ist entscheidend, um fundamentale Menschenrechte zu gewährleisten, inklusive des Rechts auf Leben und persönlicher Sicherheit, Privatsphäre, Nicht-Diskriminierung und die Freiheit von grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung, unter anderem“, erklärte Human Rights Watch. „Alle diese Rechte werden in internationalen Vereinbarungen erkannt, die die USA ratifiziert haben.“ Amnesty International erklärte, das Urteil sei ein düsterer Meilenstein in der Geschichte der USA. Es betreffe jede einzelne Person in den USA, ungeachtet, ob sie schwanger werden könnten oder nicht.
Die Abtreibungsgesetzgebung liegen künftig in den Händen der 50 Bundesstaaten. Etwa die Hälfte werde Abtreibung verbieten oder stark einschränken, erwarten Organisationen für Familienplanung. Mehrere republikanisch regierte Staaten haben in Erwartung des Urteils in den vergangenen Monaten bereits weitreichende Verbote beschlossen. Sie sehen nicht die Bestrafung der Frauen vor, die ihre Schwangerschaft beenden, sondern des medizinischen Personals. Texas verbietet Abtreibung nach der sechsten Schwangerschaftswoche, Oklahoma „vom Augenblick der Empfängnis“. 13 Staaten haben so genannte „Auslösergesetze“, denen zufolge weitreichende Verbote automatisch in Kraft treten, sollte „Roe v. Wade“ aufgehoben werden. Eine Vertreterin des Anti-Abteibungsorganisation, Susan B. Anthony Pro-Life America, Sue Liebel, sagte im Rundfunksender NPR, republikanisch regierte Staaten würden nun schnell handeln.
Demokratisch regierte Staaten wie Kalifornien und New York wollen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bewahren. In manchen bereiten sich Kliniken auf einen Andrang von außerhalb vor. Unklar bleibt der rechtliche Umgang mit Abtreibungspillen. Auf Grund einer Reform der Regierung von US-Präsident Joe Biden im vergangenen Jahr dürfen diese Mittel per Post verschickt werden.
Laut Umfragen sind US-Amerikanerinnen und Amerikaner bei der Abtreibungsfrage gespalten. Absolute Verbote oder absolute Freigabe werden skeptisch gesehen. Bei einer Erhebung des Senders CNN im Mai sprachen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine vollständige Aufhebung von „Roe v. Wade“ aus.
Nach Angaben des Familienplanungsinstituts Guttmacher Institute sind 2020 in den USA 930.160 Abreibungen vorgenommen worden, acht Prozent mehr als 2017, dem letzten Vorjahr mit zuverlässigen Daten. Die Zunahme folge einem graduellen Rückgang der Abtreibungszahlen seit Anfang der 1990er Jahre, hieß es in dem kürzlichen Guttmacher-Bericht. Etwa eine von fünf Schwangerschaften werde mit einer Abtreibung beendet.