Berlin, Bonn (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso) und die Bundesvereinigung Lebenshilfe sind sich einig: Ohne eine allgemeine Impfpflicht drohe im kommenden Herbst eine weitere verheerende Corona-Welle. Sie halten die Einführung einer Impfpflicht für alle Erwachsenen für alternativlos. Doch daran gibt es Zweifel bei so manchem Experten, gleich welchen Fachgebietes. Das wurde bei einer dreistündigen Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages am Montag deutlich. Zu hören waren praktische und systematische Bedenken.
Geladen waren Mediziner, Juristen und Verbändevertreterinnen und -vertreter, die sich zu den dem Bundestag vorliegenden fünf Konzepten für und gegen eine allgemeine Impfpflicht äußerten und die Problemlage aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchteten. So lehnte etwa der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes eine Pflichtimpfung für alle Erwachsenen ab: Diese sei derzeit nicht kontrollierbar und damit nicht durchsetzbar. Das sah auch der Medizinrechtler Josef Franz Lindner so. Die Impfpflicht, sofort oder zeitnah umgesetzt, wäre als „Vorratsimpfpflicht“ verfassungsrechtlich problematisch, sagte er.
Der Verfassungsrechtler Robert Seegmüller zeigte sich ebenfalls skeptisch. Er betonte, eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren ließe sich verfassungsrechtlich nicht ausreichend begründen - anders als die Konzepte für eine verpflichtende Impfberatung und eine Impfpflicht ab 50 Jahren unter Vorbehalt sowie für ein Impfvorsorgegesetz. „Es gelinge nicht, die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in der gebotenen Weise darzulegen.“
Der Rechtsexperte Franz Mayer kam dagegen zu dem Schluss, dass eine Impfpflicht ab 18 Jahren am besten den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspreche. Dem Gesetzgeber komme ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Gegen die Impfpflicht sprächen weder die begrenzte Schutzwirkung der Impfstoffe noch etwa das Fehlen eines Impfregisters oder die fehlende zwangsweise Durchsetzung einer Impfpflicht. „Dass es keine letzten medizinischen Gewissheiten gebe, bedeutet nicht, dass nicht gehandelt werden solle“, sagte Mayer.
Die Bagso warb derweil bei den Bundestagsabgeordneten mit Nachdruck für eine allgemeine Corona-Impfpflicht für alle Erwachsenen - auch, weil die Zeit davonlaufe. „Stellen Sie sicher, dass wir im Herbst 2022 nicht erneut eine Corona-Welle mit täglich mehr als 200.000 Erkrankungen und mehr als 200 Todesfällen haben“, heißt es in einem Schreiben an die Fraktionen und die Gesundheitspolitiker der Parteien, dessen Inhalt am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Eine Impfpflicht für alle Erwachsenen biete die einzige Chance, rechtzeitig eine endemische Lage in Deutschland zu erreichen. Sie sei „verhältnismäßig und angemessen“.
Das sieht auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe so, die für die Anhörung eine Stellungnahme vorgelegt hat: „Wenn wir im Herbst nicht von der nächsten Corona-Welle kalt erwischt werden wollen, brauchen wir ein auf Dauer tragfähiges Schutzkonzept. Daher muss jetzt schnell die allgemeine Impfpflicht kommen“, betonte die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt. Sonst sei die Gefahr groß, dass sich vulnerable Gruppen wie Menschen mit Behinderung und deren Familien erneut über Wochen und Monate isolieren müssten.