Sachsenhausen-Prozess gegen früheren SS-Wachmann fortgesetzt

Sachsenhausen-Prozess gegen früheren SS-Wachmann fortgesetzt
Im NS-Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann bestreitet der Angeklagte bisher, in Sachsenhausen im Einsatz gewesen zu sein. Der psychiatrische Gutachter bezweifelt jedoch, dass er die Zeitspanne als "falsche Erinnerung" verdrängen konnte.

Brandenburg an der Havel (epd). Im Prozess gegen einen früheren SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen vor dem Landgericht Neuruppin ist das Erinnerungsvermögen des 101-jährigen Angeklagten thematisiert worden. Der psychiatrische Gutachter Bernd Meißnest äußerte am 26. Verhandlungstag Zweifel daran, dass es einem Menschen gelingen könne, mehr als drei Jahre eines langen Lebens als „falsche Erinnerung“ zu verbuchen. „Das habe ich so noch nicht erlebt“, sagte der Chefarzt der Gerontopsychiatrie des Klinikums Gütersloh am Freitag am Prozessort in Brandenburg an der Havel. Der Angeklagte Josef S. bestreitet trotz zahlreicher anderslautender Dokumente bislang, SS-Wachmann in Sachsenhausen gewesen zu sein.

S. habe im Verlauf des Verfahrens angegeben, nie in Sachsenhausen gewesen zu sein und in der fraglichen Zeit in der Nähe von Pasewalk bei einem Bauern gearbeitet zu haben, fasste der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann frühere Ausführungen zusammen: „Das deckt sich nicht unbedingt mit dem vorläufigen Beweisergebnis.“ Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten Beihilfe zum Mord in mindestens 3.518 Fällen vor. Den Ermittlungen zufolge hat er in der Zeit zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 als Wachmann in Sachsenhausen gearbeitet. (Az.: 11 Ks 4/21)

Falsche von richtigen Erinnerungen zu unterscheiden, sei sehr schwer, sagte Meißnest. Außenstehende könnten solche erfundenen Geschichten kaum erkennen, wenn sie nicht mit unabhängigen Quellen abgeglichen werden. Je länger die Zeitspanne falscher Erinnerungen währe, desto fester würden sie im eigenen Gedächtnis abgespeichert.

Menschen seien in der Lage, reales Erleben bis zur Unkenntlichkeit zu verändern, sagte Meißnest. Es sei „immer ein Hauptbedürfnis“, anderen gegenüber ein gutes Bild abzugeben und ein gutes eigenes Selbstbild aufrechtzuerhalten. Anfangs würden solche Abwehr- und Schutzmechanismen bewusst eingesetzt, sagte Meißnest: „Irgendwann ist es aber ein Selbstläufer.“ Wer später über Jahrzehnte die Erfahrung mache, kein schlechter Mensch zu sein, könne zu dem Schluss kommen, er habe sich nichts vorzuwerfen, es sei alles in Ordnung gewesen. Dass aber jemand einen mehrjährigen Zeitraum verdränge, sei kaum denkbar.

Der 98-jährige Überlebende Marcel Suillerot aus Frankreich schilderte am Freitag per Videovernehmung die Torturen im KZ Sachsenhausen, darunter das brutale Vorgehen der SS im als Todeslager bekannten Klinkerwerk in Oranienburg. Wer dort Zementsäcke fallengelassen habe, sei von der SS getötet worden, sagte er und berichtete von Kulturveranstaltungen der SS, die mit Brutalität und Morden an Häftlingen einhergingen, während andere Häftlinge musizieren mussten.

Im KZ Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende wurden ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben. Bei drei weiteren bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin laufenden Ermittlungsverfahren gegen früheres KZ-Personal sei der weitere Verlauf noch nicht abzusehen, sagte Oberstaatsanwalt Cyrill Klement dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ob Anklage erhoben werde, sei noch offen. Ein Verfahren betrifft das KZ Sachsenhausen, zwei das KZ Ravensbrück. Die drei Beschuldigten leben nicht in Brandenburg.