Frankfurt a.M. (epd). Für den Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung braucht es dem Geschäftsführer der Stiftung Weltbevölkerung, Jan Kreutzberg, zufolge deutlich mehr Geld. „Die Corona-Pandemie hat viele Fortschritte zunichte gemacht“, sagte der Entwicklungsexperte dem Evangelischen Pressedienst (epd). Insgesamt 2,1 Milliarden US-Dollar seien nötig, um die menschenverachtende Praxis wie von der Weltgemeinschaft vereinbart bis 2030 abzuschaffen. „Genitalverstümmelung ist kein vernachlässigbares Phänomen“, betonte Kreutzberg. „Es gibt derzeit 200 Millionen Frauen, die damit leben, das sind fünf Prozent der weiblichen Weltbevölkerung.“
Jedes Jahr werden laut UN etwa vier Millionen Mädchen und Frauen an ihren Genitalien verstümmelt, mit gravierenden gesundheitlichen und psychischen Folgen. Aufgrund der Pandemie könne die Zahl jährlich um eine Viertelmillion zunehmen.
Das Geld werde für Aufklärungsarbeit gebraucht, sagte Kreutzberg. Aber auch, um jungen Frauen und Müttern Bildung und damit eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu ermöglichen. „Denn das Bildungsniveau vor allem der Mütter hat erheblichen Einfluss darauf, ob ihre Töchter einer Genitalverstümmelung unterzogen werden oder nicht“, erklärte er.
Die Corona-Schulschließungen hätten die Bildungschancen vieler Mädchen erheblich verschlechtert. „Außerdem hat ein gewisser Kontrollmechanismus durch Lehrer und Mitschüler gefehlt“, erläuterte Kreutzberg. Die Eltern konnten die Mädchen so dem traditionellen Ritual heimlich unterziehen. „Den Eltern ist bewusst, dass sie sich damit strafbar machen. Aber sie sind in der Gemeinschaft diesen traditionellen Werten ausgeliefert.“
Laut dieser Tradition, die nicht einzelnen Ethnien oder Religionen zuzuordnen ist, ist eine junge Frau oft erst heiratsfähig, wenn sie an den Genitalien verstümmelt ist. Durch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Maßnahmen sind Familien Kreutzberg zufolge noch mehr darauf angewiesen, ihre Töchter früh zu verheiraten, um ein Mitglied weniger versorgen zu müssen. „Deshalb nehmen Genitalverstümmelungen während der Pandemie genauso zu wie Frühverheiratungen.“
Dabei entstehen für Mädchen und junge Frauen erhebliche Gefahren von Blutverlust, Infektionen, langfristigen Traumata, Geburtskomplikationen bis hin zum Tod. Zugleich erhalten sie aufgrund der Pandemie noch schwerer medizinische Hilfe.
Die Gemeinschaften zu einem Umdenken zu bewegen, sei ein langer Prozess, sagt Kreutzberg. „Hauptzielgruppe müssen Mädchen von zehn bis 18 Jahren sein.“ Die Stiftung Weltbevölkerung arbeite aber auch mit Regierungsbeamten, Juristen, Ältestenräten, traditionellen Häuptlingen und religiösen Führern. Wichtig sei auch die Zusammenarbeit mit ehemaligen Beschneiderinnen, die sich inzwischen gegen die Praxis aussprechen: „Sie können stark auf die Eltern einwirken.“
Zunehmend würden auch gezielt junge Männer über die Folgen der Genitalverstümmelung aufgeklärt. „In patriarchalen Strukturen hängen die Entscheidungen oftmals von Männern ab. Wenn junge Männer und männliche Entscheidungsträger davon überzeugt werden, dass die Praxis geächtet gehört, bestehen die Chancen, dass sie sich aktiv dagegen einsetzen“, sagte Kreutzberg.