Theologe: Psychisch Erkrankte nicht unter Generalverdacht stellen

Theologe: Psychisch Erkrankte nicht unter Generalverdacht stellen
23.10.2021
epd
epd-Gespräch: Yvonne Jennerjahn

Potsdam (epd). Vor Beginn des Mordprozesses wegen der Gewaltverbrechen im Potsdamer Oberlinhaus Ende April hat der Vorstand des evangelischen Sozialunternehmens vor einer Stigmatisierung psychisch Kranker gewarnt. In Deutschland seien laut Statistik rund 17 Millionen Menschen von psychischen Krankheiten betroffen, sagte der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Matthias Fichtmüller, dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Potsdam: „Man kann doch all diese Menschen nicht einfach unter Generalverdacht stellen.“

Am Landgericht Potsdam beginnt am Dienstag der Prozess gegen eine 52-jährige Mitarbeiterin des Oberlinhauses, die dort am 28. April in einer Wohneinrichtung vier schwerstbehinderte Menschen getötet und eine weitere Frau schwer verletzt haben soll. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Mord und weitere Straftaten vor und geht zugleich von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus. Die Frau, die zuvor rund 30 Jahre im Oberlinhaus gearbeitet hat, wurde noch in der Tatnacht festgenommen und am Tag darauf in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

„Wenn die Angeklagte krank ist, dann braucht sie Hilfe“, sagte Fichtmüller: „Das festzustellen, rechtfertigt ja nicht die Tat.“ Wenn das Oberlinhaus als Arbeitgeber vorab Informationen über eine psychische Krankheit gehabt hätte, „würde entweder der Datenschutz nicht funktionieren oder die ärztliche Schweigepflicht“, sagte Fichtmüller: „Wenn die Beschuldigte selbst es erzählt hätte, wäre das natürlich was anderes gewesen.“

Auf das Warum werde es möglicherweise auch in dem Prozess keine Antwort geben, sagte der Theologe: „Wenn es durch eine psychische Krankheit keine Grenze zwischen Gedanken und Handlungen gibt, lässt sich keine Antwort finden. Außer, dass die Krankheit therapiert werden muss.“

Mit den Arbeitsbedingungen könne die Tat nicht erklärt werden, sagte Fichtmüller. Vor dem Arbeitsgericht sei zwar von Überlastung und schlechten Arbeitsbedingungen die Rede gewesen. „Da können wir nur sagen, wir sind überprüft worden“, betonte er: „Wir leisten in vielen Bereichen wirklich mehr, als wir müssen.“

In der Pflege würden überall mehr Arbeitskräfte gebraucht, sagte Fichtmüller: „Im Krankenhaus, im Seniorenheim, in Häusern, in denen Menschen mit Behinderung leben.“ Die Frage, wie gute Pflege aussehen solle, könne jedoch „nicht im Oberlinhaus beantwortet werden und auch nicht vor dem Hintergrund dieser furchtbaren Tat“. Ein erster Schritt hin zu Verbesserungen „wäre, wenn die Kostenträger verlangen, dass in der Branche jeder Träger den Mitarbeitenden Tarif zahlt“.