Berlin (epd). Bildungsferne Milieus werden einer Untersuchung zufolge im deutschen Schulsystem bei der Sprachförderung weiter benachteiligt. Schülerinnen und Schüler, die nicht schon von zuhause viele Kenntnisse mitbringen und die nicht aus bildungsorientierten Milieus stammen, hätten bei der Vermittlung von Sprachfähigkeiten an den Schulen weiter das Nachsehen, sagte die Sprachwissenschaftlerin Ursula Bredel von der Universität Hildesheim bei der Vorstellung des dritten Berichts zur Lage der deutschen Sprache am Mittwoch in Berlin. Schule und Bildungspolitik hätten hier großen Nachholbedarf.
Um Verbesserungen zu erreichen, seien eine große Kraftanstrengung und auch die Bereitschaft zu mehr Investitionen in das Bildungssystem nötig, sagte Bredel, Projektleiterin des Berichts. Didaktische Konzepte lägen zum Teil bereits vor, müssten jedoch auch umgesetzt werden. Die Weichen würden zwar bereits vor der Schulzeit in den Familien gestellt, die Vermittlung guter Sprachfähigkeiten sei jedoch Aufgabe der Schulen. „Wir können die Eltern nicht ändern“, sagte Bredel: „Die Schule muss das leisten.“
Zugleich betonte sie, die Anforderungen an Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler seien in den vergangenen Jahren insgesamt deutlich gestiegen. Die Schulen müssten nun unterstützt werden, damit sie ihre Aufgaben auch bewältigen können. Der Linguist Helmuth Feilke von der Universität Gießen, Co-Projektleiter des Berichts, sagte, die Schule erfülle „sehr viele der Aufgaben, die an sie gestellt werden“, müsse jedoch besser werden. Für die rund 800.000 Lehrkräfte an den Schulen in Deutschland müssten auch verpflichtende Fort- und Weiterbildungen eingeführt werden.
Insgesamt zeichneten die an der Studie Beteiligten ein differenziertes Bild. Von einem Verfall der deutschen Sprache, wie zum Teil behauptet, könne nicht gesprochen werden, hieß es. Es würden auch neue Kompetenzen vermittelt. Die Normtreue nehme jedoch ab, wenn auch nicht in gravierender Weise, sagte Feilke.
Die Sicherheit in der Rechtschreibung habe über die Jahre hinweg nachgelassen, sagte Bredel. Ein Bruch sei dabei in den 70er und 80er Jahren festzustellen. Hintergrund sei eine „Umstellung von formaler auf funktionale Sprachbildung“ in dieser Zeit. Es zeige sich nun, dass die formale Orientierung wieder gestärkt werden müsse.
Die Zahl fehlerloser Texte habe einer Studie für den Bericht zufolge zwischen 1972 und 2012 stark abgenommen, hieß es weiter. Während 1972 noch 60 Prozent der Texte ohne Fehler gewesen seien, seien es 40 Jahre später nur noch 20 Prozent gewesen. Zugleich seien Textlängen und Umfang des Wortschatzes deutlich gestiegen. „Sehr frappierend“ sei, dass Sprachfähigkeiten in fünften Klassen an Gymnasien bereits besser seien als in neunten Klassen von Gesamtschulen.
Die empirische Untersuchung, für die unter anderem rund 1.000 Texte von Viertklässlern aus Nordrhein-Westfalen, rund 31 Stunden Gesprächsdaten aus zwölf Familien und rund 106 Stunden Deutschunterricht ausgewertet wurden, sei eher eine Momentaufnahme, hieß es. Nur in einigen Bereichen seien auch Vergleiche von Daten aus verschiedenen Jahren vorgenommen worden. Repräsentative Studien seien nicht enthalten.