Berlin (epd). Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) rechnet nach der Machtübernahme der Taliban mit deutlich mehr Suchanfragen nach Vermissten aus Afghanistan. In den Beratungsstellen des DRK-Suchdienstes zur Familienzusammenführung sei mit Hunderten von Anfragen schon seit Tagen ein drastischer Anstieg zu verzeichnen, erklärte DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt am Freitag in Berlin. Das DRK werde in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sein Möglichstes tun, um vermisste Menschen zu finden, sagte sie.
Hasselfeldt und DRK-Generalsekretär Christian Reuter appellierten an die Bundesregierung, Visaverfahren in mehr Nachbarländern Afghanistans zu ermöglichen und sie deutlich zu beschleunigen. Dafür müsse auch das Personal in den Botschaften aufgestockt werden. Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte nach dem Ende der Evakuierungsflüge der Bundeswehr aus Kabul am Donnerstagabend erklärt, dass Ortskräfte und andere Schutzberechtigte wie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten ihre Ausreise über die deutschen Botschaften in den Nachbarländern Afghanistans betreiben können. Bisher konnten Afghanen nur in den deutschen Botschaften in Neu-Delhi und der pakistanischen Hauptstadt Islamabad Visa beantragen. Das gilt auch für Anträge auf den Nachzug von Familienmitgliedern.
Die Leiterin des DRK-Suchdienstes, Dorota Dziwoki, sprach von „sehr langwierigen Verfahren der Familienzusammenführung“ und erklärte, die Botschaften in Neu-Delhi und Islamabad müssten entlastet werden. Sie schilderte die Schwierigkeiten bei der Suche nach vermissten Menschen aus Afghanistan. Frauen könnten nur über den Namen eines männlichen Familienmitglieds gesucht werden, da sie keinen eigenen Nachnamen besitzen, sagte Dziwoki. In dem Land würden Geburtsdaten und -orte nicht erfasst. Hinzu komme, dass Gesuchte auf der Flucht seien und sich die Mitarbeiter der Suchdienste in große Gefahr begäben, wenn sie in Kriegs- und Konfliktregionen unterwegs seien.
Das DRK hat gegenwärtig keine eigenen Mitarbeiter in Afghanistan. Es sind aber 1.800 IKRK-Angestellte im Land, wie der Regionaldirektor für Europa und Zentralasien, Martin Schüepp, mitteilte. Sie hätten während der jüngsten Kampfhandlungen Verletzte evakuiert, Tote geborgen und bemühten sich, auseinandergerissene Familien zu erfassen und ihnen zu helfen.
Der DRK-Suchdienst stellte anlässlich des Internationalen Tags der Vermissten am 30. August auch seine Bilanz für 2020 vor. Danach wurden 1.657 internationale Anfragen bearbeitet, die meisten kamen aus Afghanistan, Somalia, Irak und Syrien. Weltweit werden nach Angaben des internationalen Suchdienst-Netzwerks vom Roten Kreuz und Roten Halbmond mehr als 210.000 Menschen aufgrund von Flucht, Vertreibung, Krieg und Naturkatastrophen vermisst. Das IKRK konnte 9.500 Menschen finden, deren Angehörige sie suchen ließen; das sind im Durchschnitt 26 Menschen am Tag.
Noch immer gehört auch die Klärung der Schicksale von Wehrmachtssoldaten und Zivilisten, die seit dem Zweiten Weltkrieg vermisst werden, zu den Aufgaben des DRK-Suchdienstes. Dazu erhielt er im vorigen Jahr 11.501 Anfragen, etwas mehr als 2019. Die meisten kamen aus Deutschland, aber auch aus Russland, Österreich, Polen, Norwegen und Australien.
Die internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist mit nationalen Gesellschaften in 192 Ländern die größte humanitäre Organisation der Welt. Der DRK-Suchdienst wird vom Bundesinnenministerium finanziert.