Berlin, Kabul (epd). Die militärische Evakuierungsoperation am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul geht weiter voran. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden bis Dienstagmorgen mehr als 3.600 Menschen von der Bundeswehr ausgeflogen, darunter mehr als 2.800 afghanische Staatsbürger. Gleichzeitig mehren sich Berichte, dass ehemalige Ortskräfte von deutscher Polizei oder Entwicklungsorganisationen von den internationalen Soldaten am Flughafen wieder abgewiesen werden - und auch die Taliban wollen afghanische Staatsbürger nun nicht mehr ausreisen lassen.
Der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, Marcus Grotian, sagte in Berlin, in diesen Minuten würden Menschen am Flughafen von Kabul abgewiesen, weil sie nicht auf den Listen stünden. Denn sie hätten zu einer Zeit für ein deutsches Ressort gearbeitet, die „nicht bürokratisch erfasst“ sei. Als Beispiel nannte er eine Frau, die noch 2017 bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig gewesen sei. In den vergangenen Tagen habe sie immer wieder versucht, zum Flughafen zu gelangen. Sie habe es bis zu den deutschen Soldaten geschafft und sei dort abgewiesen worden.
Derweil wird es für Afghaninnen und Afghanen in Zukunft schwieriger, überhaupt zum Flughafen zu gelangen. Der Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid schloss am Dienstagnachmittag eine Verlängerung des Evakuierungseinsatzes der internationalen Truppen aus. Die vereinbarte Frist laufe am 31. August ab, sagte er in Kabul bei einer von BBC übertragenen und übersetzten Pressekonferenz. Eine Verlängerung verstoße gegen die Absprachen. Afghaninnen und Afghanen dürften nicht mehr ausreisen, sagte er. „Wir werden ihnen nicht erlauben, das Land zu verlassen.“ Ausländer hingegen würden weiter zum Flughafen gelassen.
Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) warnte vor einer hohen Gefahr für afghanische Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen unter der Herrschaft der Taliban. Er traue den Zusicherungen der Aufständischen nicht, „es wird bereits jetzt verfolgt und gemordet“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“ (Dienstag). Allerdings hat das Entwicklungsministerium noch bis kurz vor der Machtübernahme der Taliban darauf gesetzt, in Afghanistan weiterarbeiten zu können und stets darauf verwiesen, dass die meisten Ortskräfte in der Entwicklungszusammenarbeit nicht den Wunsch hätten, das Land zu verlassen.
Die Bundesregierung hat laut einem Bericht in der „Welt“ (Mittwoch) entschieden, dass ehemalige Ortskräfte des Entwicklungsministeriums und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) auch dann ausreisen dürfen, wenn ihr Beschäftigungsverhältnis länger als zwei Jahre zurückliegt. Wie für Ortskräfte der Bundeswehr und der Bundespolizei sei nun eine Beschäftigung ab 2013 ausschlaggebend.
Nach Bundeswehrangaben wird die Lage rund um den Flughafen gefährlicher. So gebe es Hinweise, dass zunehmend Selbstmordattentäter der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Kabul einsickerten. Zudem rückt der 31. August näher, das geplante Rückzugsdatum internationaler Truppen aus Afghanistan.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kündigte derweil eine Vervierfachung der humanitären Hilfe für bedürftige Afghaninnen und Afghanen an. Beim G7-Gipfel am Nachmittag wollte sie eine Erhöhung von bisher geplanten über 50 Millionen Euro auf über 200 Millionen Euro ankündigen, wie sie auf Twitter mitteilte. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlug indes wegen eines drohenden Medikamentenmangels in Afghanistan Alarm. „Die Vorräte im Land halten noch eine Woche“, sagte der WHO-Direktor für die Region östliches Mittelmeer, Ahmed Al-Mandhari, bei einer virtuellen Pressekonferenz.
Seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban vor gut einer Woche bringen westliche Länder ihre Staatsangehörigen und weitere schutzbedürftige Menschen über den Flughafen Kabul außer Landes. Allerdings geht die Bundesregierung nicht davon aus, bis Ende des Monats alle ihre afghanischen Ortskräfte ausfliegen zu können.