Anfang April 1946 kam es in einem evangelischen Pfarrhaus in der Nähe von Alzey zu einem denkwürdigen Treffen. Hausherr Reinhard Becker, evangelischer Superintendent für Rheinhessen, und seine beiden Gäste, der französische General Pierre Jacobsen und der spätere hessen-nassauische Kirchenpräsident Martin Niemöller, standen vor einem heiklen Problem: Bereits in wenigen Wochen sollte der Lehrbetrieb an der neu gegründeten Mainzer Universität starten. Aber der Fakultät für evangelische Theologie fehlten noch immer die Professoren. Die Zeit drängte. Daher entschieden die Männer zu improvisieren.
Zum 75. Jahrestag der Universitäts-Wiedergründung im Frühjahr 1946 hat sich der Mainzer Kirchengeschichtler Wolfgang Breul ausgiebig mit der Geschichte seiner Fakultät befasst. Bei seinen Recherchen für einen Jubiläumsband der Hochschule stieß er im Archiv der Propstei Rheinhessen auf spannende Unterlagen aus der Gründungszeit. Damals war es ausdrücklicher Wunsch der französischen Besatzungsmacht, in der erzkatholischen Stadt auch einen Fachbereich für evangelische Theologie aufzubauen. Zudem legten die Franzosen Wert darauf, keine führenden Posten an Professoren mit zwielichtiger NS-Vergangenheit zu vergeben.
Gründungsphase dauerte nur wenige Monate
"Die eigentliche Gründungsphase war sehr kurz, sie begann um Weihnachten 1945 herum", berichtet Breul. "Innerhalb von vier bis fünf Monaten musste man eine halbwegs funktionsfähige Fakultät auf die Beine stellen." Im zerbombten Mainz sei das alles andere als einfach gewesen. Daher sei Martin Niemöller, den es 1945 eher zufällig aus Berlin in die Rhein-Main-Region verschlagen hatte, trotz seiner nationalprotestantischen Grundhaltung gezielt als prominenter Vertreter der Bekennenden Kirche angesprochen worden.
Auf formalisierte Berufsverfahren legte die Besatzungsmacht weniger Wert und gab dem späteren Kirchenpräsidenten ein beispielloses Mitspracherecht beim Aufbau der Fakultät: Der Hitler-Gegner und prominente KZ-Häftling sollte einfach eine Kandidatenliste für die Besetzung der Lehrstühle zusammenstellen. Durch die Berufung möglichst vieler Theologen aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche hätte die Mainzer Fakultät eine völlig eigene Prägung erhalten sollen, vermutet Breul: "Das Konzept ist dann aber gescheitert, weil viele Vertreter der Bekennenden Kirche, die auf der Liste standen, absagten."
Die Gründe dafür waren unterschiedlich. Sogar die damals verbreitete Angst, dass die Region um Mainz noch nach dem Vorbild des Saarlandes aus dem künftigen deutschen Staatsgebiet ausgegliedert werden könnte, spielte eine Rolle. Als einziger der von Niemöller vorgeschlagenen Theologen nahm der Neutestamentler Ernst Käsemann eine Professur an der neuen Universität an.
Studenten mussten Kohle mitbringen
Im April 1946 verabredeten Niemöller, der Franzose Jacobsen und Superintendent Becker daher bei ihrem Treffen, sich zunächst mit befristeten Lehraufträgen zu behelfen. Die sollte der Gründungsdekan und Niemöller-Weggefährte Wilhelm Jannasch vergeben und dann den Aufbau der Fakultät fortsetzen. Den Lehrbetrieb im Mai mussten die evangelischen Theologen dann auch unter äußerst bescheidenen Bedingungen aufnehmen. "Man muss sich das als Ein-Zimmer-Betrieb vorstellen", sagt Breul. Ein Schrank mit gespendeten Büchern in der Ecke habe als Bibliothek für die rund 30 Studenten und zwei oder drei Studentinnen gedient. Im Winter mussten die Studenten anfangs sogar noch Kohle mitbringen, damit während der Vorlesungen geheizt werden konnte.
Die katholischen Theologen konnten derweil auf den Strukturen ihres Priesterseminars aufbauen. Von einer gleichrangigen Stellung waren die beiden Konfessionen an der jungen Mainzer Universität daher weit entfernt. So gab es zur Eröffnung im Frühjahr 1946 zwei Gottesdienste - einen katholischen im prächtigen Mainzer Dom und einen evangelischen in der kleinen Krankenhauskapelle. Trotzdem stieg die Zahl der evangelischen Theologie-Studenten schon in den kommenden Jahren sprunghaft auf über 300 an. Dennoch habe es die Fakultät auch noch lange schwergehabt, prominente Köpfe zu halten, sagt Breul: "Die Mainzer Fakultät war in den ersten Jahrzehnten ein Sprungbrett."