"Passen Sie auf auf unser Land"

"Passen Sie auf auf unser Land"
Rednerinnen in Holocaust-Gedenkstunde warnen vor Verschwörungsmythen
Seit 25 Jahren erinnert der Bundestag mit einer Gedenkstunde rund um den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz an die Opfer der Nazis. In diesem Jahr standen aktuelle Formen von Antisemitismus, verkleidet in Verschwörungsmythen, im Zentrum.
27.01.2021
epd
Von Corinna Buschow (epd)

Berlin (epd). In ihren Reden zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus haben Charlotte Knobloch und Marina Weisband eine stärkere Achtsamkeit für Formen von Judenhass gefordert, die bis in die Mitte der Gesellschaft wirken. Man müsse auch "dort zupacken, wo es wehtut", sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Knobloch, am Mittwoch in der Gedenkstunde des Bundestags. Sie verwies unter anderem auf eine intellektuelle Verbrämung von Antisemitismus, Doppelstandards bei Israel-Kritik und Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Die Publizistin Weisband sagte, Antisemitismus beginne mit Verschwörungserzählungen. "Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein ständiger Prozess ist", sagte die frühere Netzpolitikerin.

"Das Phänomen Antisemitismus ist größer als das Offensichtliche", mahnte Knobloch und verurteilte auch Holocaust-Vergleiche bei den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. "Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoah", sagte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und erntete dafür Applaus aus weiten Teilen des Plenums.

"Passen Sie auf auf unser Land", forderte die 88-Jährige die Parlamentarier auf. Dabei betonte sie, dies explizit nicht an die "ganz rechte Seite des Plenums" zu richten. Dort sitzt die AfD, die Knobloch nicht namentlich erwähnte. "Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen", sagte sie.

Berührend schilderte die 1932 geborene Knobloch in ihrer knapp 30-minütigen Rede, wie sie als jüdisches Kind in München die zunehmende Ausgrenzung unter den Nationalsozialisten erlebte. Sie erzählte, wie sie im Hof nicht mehr mit anderen Kinder spielen durfte, weil sie ein "Judenkind" war, und der tägliche Schulweg zum Spießrutenlauf wurde. Sichtlich bewegt berichtete sie von der engen Beziehung zu ihrer Großmutter, die 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurde.

Weisband - 1987 in Kiew als Tochter jüdischer Eltern geboren - sagte, Jüdin in Deutschland zu sein, bedeute die Schoah in sich zu tragen und mit den Traumata der Eltern und Großeltern zu leben. Anders als ihre Eltern und Großeltern gehofft hatten, könnten Juden in Deutschland nicht einfach als Menschen wie andere leben. Zum Gebet gehe sie durch Sicherheitskontrollen, sagte Weisband. Sie sei dankbar für diesen Schutz: "Aber es macht was mit uns."

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) bezeichnete es als "unglaubliches Glück für unser Land", dass jüdische Gemeinden heute heimisch in Deutschland seien. Gleichzeitig räumte er sein, es sei "niederschmetternd, eingestehen zu müssen: Unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor einer dreisten Umdeutung oder sogar Leugnung der Geschichte". Er erinnerte an das Attentat in Halle im Oktober 2019, bei dem die jüdische Gemeinde nur knapp einem mörderischen Anschlag entkommen war. Zwei Passanten kamen ums Leben.

Seit 25 Jahren erinnert der Bundestag rund um den 27. Januar mit einer Gedenkstunde an die Opfer der Judenverfolgung unter der Nationalsozialisten. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte den Tag der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 im Jahr 1996 als Gedenktag proklamiert.

Im Beisein der Verfassungsorgane wurde in diesem Jahr nach der Gedenkstunde im Andachtsraum des Bundestags die Torarolle aus Sulzbach in der Oberpfalz, eine der ältesten Torarollen Deutschlands, mit den letzten acht Buchstaben vervollständigt. Die heilige Schrift, die in einem Versteck die Zeit des Nationalsozialismus überdauerte und 2015 wiederentdeckt worden war, wurde mit Unterstützung des Bundes aufwendig restauriert und soll künftig in der jüdischen Gemeinde in Amberg wieder für Gottesdienste verwendet werden.

epd co/bm kfr