Frankfurt a.M., Mytilini (epd). Angst und Alpträume haben fast alle, aber auch völlige Apathie oder Suizidversuche sind verbreitet: Die Flüchtlingskinder auf Lesbos leiden nach Einschätzung der Psychologin Katrin Glatz-Brubakk nach dem Brand im alten Camp Moria und dem Umzug ins neue Lager Kara Tepe mehr denn je. "Es hieß: 'Nie wieder Moria!', und alle hatten die Hoffnung, dass es etwas besser wird", sagte die Expertin von "Ärzte ohne Grenzen" im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Und jetzt sieht man, dass es das nicht ist, eher im Gegenteil. Da verlieren Menschen die Hoffnung - und wenn wir keine Hoffnung mehr haben, dann verlieren wir auch die Lebenskraft."
Die Kinder würden mehr und mehr depressiv, erklärte die Norwegerin, die derzeit zum neunten Mal für "Ärzte ohne Grenzen" auf Lesbos im Einsatz ist. "Wir sehen leider sehr viele Fälle von Selbstschädigung und auch Suizidversuche, Panikattacken oder die totale Apathie", sagte Glatz-Brubakk. Ein 13-Jähriger aus Afghanistan habe in dieser Woche schon zum fünften Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. "Und wir haben Kinder, die seit Monaten nicht mehr reden, also kein Wort sagen."
Krieg und Kämpfe in der Heimat und die Schrecken der Flucht hätten unzählige Kinder traumatisiert, aber oft hätten sie dennoch Bewältigungsstrategien entwickelt. Doch Polizeigewalt, Prügeleien im Camp und nicht zuletzt das Feuer vom September, bei dem das Lager Moria niederbrannte, hätten bei vielen zu solch starken Re-Traumatisierungen geführt, "dass sie die Welt aufgeben". Viele hätten auch angefangen zu schlafwandeln und könnten so nicht einmal mehr im Schlaf neue Kraft schöpfen.
Eben sei ein achtjähriges Mädchen aus Afghanistan bei ihr gewesen, berichtete die Kinderpsychologin am Telefon. "Sie guckt mich mit ganz, ganz ernsten Augen an und sagt: 'Du hast vielleicht Glück gehabt im Leben, du kannst in einem Haus wohnen.' Und das ist eine Perspektive, die eine Achtjährige nicht haben soll! Eine Achtjährige soll lebensfroh sein, neugierig, der Welt entgegenlaufen." Die kleine Afghanin sitze hingegen den ganzen Tag im Zelt, habe völlig aufgehört zu spielen. "Ihr ganzes Gesicht ist nur voller Kummer. Das schmerzt."
Die Kinder bräuchten ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit, Vertrautheit, betonte Glatz-Brubakk. "Und all das gibt es ja im Lager überhaupt nicht." Viele hätten Angst vor Kidnapping, Gewalt, Vergewaltigungen. Zugleich seien die Tage "total ohne Inhalt", wegen Corona gebe es nicht einmal mehr Spielgruppen außerhalb, in denen die Kinder das Lager kurzzeitig vergessen könnten, sagte die Helferin. Dazu komme nun noch die Eiseskälte und Nässe des Winters. Auch über zu wenig Essen klagten viele.
In Kara Tepe leben derzeit rund 7.000 Flüchtlinge, davon etwa 2.000 Kinder. "Ärzte ohne Grenzen" bietet nach eigenen Angaben das einzige psychologische Betreuungsangebot für die Kleinen vor Ort. Im vergangenen Jahr seien etwa 250 Kinder behandelt worden, sagte Glatz-Brubakk. "Der Bedarf ist viel, viel größer."