Frankfurt a.M. (epd). Im Prozess gegen Stephan E. wegen des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main den zweiten Tatvorwurf ins Zentrum gerückt. Die Bundesanwaltschaft wirft E. vor, einen irakischen Asylbewerber in Lohfelden bei Kassel 2016 schwer verletzt zu haben. "Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu suchen. Aber hier ist mein Leben zerstört worden", sagte der heute 27-jährige Ahmed I. am Donnerstag vor Gericht. Er leide bis heute an chronischen Schmerzen in Rücken und Bein und an psychischen Problemen wie starker Schlaflosigkeit, sagte I., der auch als Nebenkläger auftritt.
Die Anklage wirft Stephan E. neben dem Mord an Lübcke in der Nacht vom 1. auf 2. Juni 2019 in Wolfhagen-Istha zudem versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung aus Hass auf Flüchtlinge vor. E. soll laut Anklage am Abend des 6. Januars 2016 in Lohfelden Ahmed I. von einem Fahrrad aus von hinten mit einem Messer in den Rücken gestochen haben. Das Messer war viereinhalb Zentimeter tief eingedrungen und hatte Wirbelsäule und Rückenmark verletzt. E. bestreitet die Tat. Die Anklage stützt sich auf ein Messer mit DNA-Spuren in Blutresten, das Ermittler nach dem Mord an Lübcke bei der Durchsuchung des Hauses von E. fanden.
Ahmed I. berichtete, unterstützt von einem Dolmetscher hauptsächlich aus dem Kurdischen, er sei am 6. Januar 2016 gegen 21 Uhr im Regen von der Flüchtlingsunterkunft in Lohfelden Richtung Tankstelle gegangen, um Zigaretten zu kaufen. Trotz Kapuze und Kopfhörern habe er zwar bemerkt, dass sich jemand auf dem Rad hinter ihm genähert habe. Er sei aber etwas zu Seite gegangen, habe das aber nicht weiter beachtet: "Das war für mich nicht wichtig, warum sollte ich ihn ansehen", sagte er.
Plötzlich habe er einen Schlag in der Nähe der Wirbelsäule gespürt und sei zu Boden gefallen. Von dem Radfahrer, der nun vor ihm war, habe er nur blonde Harre und einen Rucksack gesehen. Weil er nicht mehr aufstehen konnte und keines der vorbeifahrenden Fahrzeuge angehalten habe, sei er schließlich in die Mitte der Straße gerobbt, damit jemand anhalte. Schließlich sei eine Person ausgestiegen und habe ihn auf den Bürgersteig gebracht. "Dort dachte ich, ich würde sterben", sagte er.
Ahmed I. war 2015 aus dem Irak geflohen und lebte in der Flüchtlingsunterkunft in Lohfelden, über deren Eröffnung Lübcke im Oktober 2015 auf einer Bürgerversammlung informiert hatte. Dort waren die Äußerungen gefallen, deretwegen der Politiker verstärkt zur Zielscheibe fremdenfeindlichen Hasses geworden war und auf die sich Stephan E. in seinen Geständnissen bezogen hatte.