Halle (epd). Mit dem Läuten aller Kirchenglocken hat die Stadt Halle am Freitag an den antisemitischen Anschlag auf die Synagoge vor einem Jahr erinnert. Um 12.01 Uhr, dem Zeitpunkt, als die ersten Schüsse an dem jüdischen Gotteshaus am 9. Oktober 2019 fielen, hielten mehrere hundert Menschen auf dem zentralen Marktplatz im Gedenken an das Attentat und die beiden dabei Getöteten für drei Minuten inne. Für den Lauf des Tages waren weitere Gedenkveranstaltungen geplant, zu denen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erwartet wurden. Spitzenpolitiker drückten zum Jahrestag ihre Sorge über einen erstarkten Antisemitismus in der Gesellschaft aus.
Am 9. Oktober 2019 hatte ein Rechtsextremist versucht, am jüdischen Feiertag Jom Kippur schwer bewaffnet in die Synagoge einzudringen. Er scheiterte an einer Holztür und erschoss eine 40 Jahre alte Passantin und in einem Döner-Imbiss einen 20 Jahre alten Mann. Der Attentäter steht seit Juli in Magdeburg vor Gericht.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte im Fernsehsender Phoenix, Antisemitismus habe es immer gegeben, allerdings nicht so offen: "Jetzt, durch Hass und Hetze im Internet und in den sozialen Medien, wird er wieder salonfähiger." Menschen trauten sich, Dinge zu sagen, die sie sonst vielleicht nur gedacht hätten, sagte Klein. Die "roten Linien" seien verschoben.
Auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, äußerte sich besorgt über einen "steil ansteigenden Antisemitismus in Deutschland". "Gerade in den vergangenen zwei Jahren haben Straftaten, auch Gewalttaten, gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland erheblich zugenommen", sagte Haldenwang dem Berliner "Tagesspiegel" (Freitag). Die Sorgen jüdischer Mitbürger seien berechtigt, dass sie auf offener Straße Opfer von Anfeindungen bis hin zu gewaltsamen Attacken werden können.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) bezeichnete Judenhass als "Schande für unser Land". Der Nährboden solcher Taten seien "Hass, Hetze und Verschwörungsmythen voller niederträchtigem Antisemitismus". Auch Außenminister Heiko Maas (SPD) sieht eine antisemitische Bedrohung in Deutschland: "Die Tatsache, dass wir überhaupt jüdische Einrichtungen schützen müssen im Jahr 2020, ist eigentlich ein Zustand, der so nicht akzeptabel ist", sagte Maas in der Sendung "Frühstart" von RTL/ntv.
Aus Sicht von Vertretern der Zivilgesellschaft hat die Aufarbeitung der Tat gerade erst begonnen. Rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Aktivitäten nähmen etwa im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen sogar noch zu, sagte Valentin Hacken vom Bündnis "Halle gegen Rechts" am Freitag in der Saalestadt. "Die, die dagegenhalten, sind einfach zu wenige", beklagte er.
Bundespräsident Steinmeier wollte am späten Nachmittag eine Gedenkrede in Halle halten. Zuvor sollte ein Mahnmal mit der Tür der Synagoge eingeweiht werden, die damals den Attentäter abhielt. Zudem sollte an dem Döner-Imbiss eine Gedenkplatte enthüllt werden.