Historiker Wagner: Neue Form der Erinnerungskultur dringend nötig

Historiker Wagner: Neue Form der Erinnerungskultur dringend nötig
24.09.2020
epd
epd-Gespräch: Björn Schlüter

Celle (epd). Der Historiker Jens-Christian Wagner plädiert mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg für eine Erneuerung der Erinnerungskultur. Aktuell stehe zu stark der mantraartig vorgetragenen Appell, sich erinnern zu sollen, im Mittelpunkt, sagte der scheidende Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dabei würden der Nationalsozialismus und seine Verbrechen angesichts des zeitlichen Abstandes zwangsläufig historisiert: "Erinnern im eigentlichen Wortsinn kann man sich doch aber nur an etwas, was man selbst erlebt hat."

Wer aus der Geschichte lernen wolle, solle zudem nicht nur um die Opfer trauern, ergänzte Wagner. Gedenkstätten sollten sich viel stärker als bisher mit der Motivation der Täter, Mittäter und Profiteure der NS-Verbrechen auseinandersetzen. Das schließe den Blick auf die Funktionsweise der NS-Gesellschaft ein, die radikal rassistisch organisiert gewesen sei und durch die Wechselwirkung zwischen Integrationsangeboten an die sogenannten "Volksgenossen" und der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der "Gemeinschaftsfremden" geprägt gewesen sei.

"Diese Funktionsweisen gesellschaftsgeschichtlich in den Blick zu nehmen erlaubt es, jenseits falscher historischer Analogiebildungen Aktualitätsbezüge zu heutigen Ausgrenzungs- und Kriminalisierungsdiskursen und -praktiken herzustellen", betonte der Historiker. Mit geschärftem Geschichtsbewusstsein und historischem Urteilsvermögen würde es möglich, die Gegenwart besser zu verstehen und damit heutigen Verletzungen von Menschenrechten und Gefährdungen der Demokratie historisch und ethisch fundiert entgegentreten zu können.

Gerade Gedenkstätten müssten daher nicht zuletzt wegen des deutlichen Erstarkens von Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit und Rassismus in ganz Europa deutlicher als bisher im Sinne historisch-politischer Interventionen in die Gesellschaft hineinwirken, forderte Wagner. Aus der Geschichte heraus wissenschaftlich fundiert zu argumentieren erlaube es, auch in aktuellen Debatten Haltung zu beziehen "gegen alle Versuche, die NS-Verbrechen kleinzureden oder gar zu leugnen, aber auch gegen aktuelle Formen rassistischer Hetze gegen Minderheiten".

Wagner hatte im September 2014 die Leitung der in Celle ansässigen Gedenkstätten-Stiftung übernommen. Anfang Oktober wechselt er als Professor für "Geschichte in Medien und Öffentlichkeit" an die Universität Jena. Seine Nachfolge als neue Chefin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten soll zum Jahresbeginn 2021 die Politikwissenschaftlerin Elke Gryglewski antreten.