New York/Genf (epd). Bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York steht eine Premiere an: Ausgerechnet im 75. UN-Gründungsjahr wird die Generaldebatte, einer der wichtigsten Termine im internationalen Politkalender, weitgehend virtuell stattfinden. Die meisten Staats- und Regierungschefs erscheinen zum Jubiläum am 21. September und zur Generaldebatte ab 22. September erstmals per Videoeinspielung - die Corona-Pandemie zwingt zum Verzicht auf den Trip an den East River. "Diese Sitzung wird wie keine zuvor", betont UN-Generalsekretär António Guterres. Möglicherweise wird nur ein Präsident sich persönlich auf den Weg machen: Donald Trump.
Der US-Präsident könnte somit dank Corona für sich allein die große UN-Bühne erhalten. Trump, so befürchten Experten, sei geneigt, die Vollversammlung zu missbrauchen und einen Wahlkampfauftritt hinzulegen. Nicht zuletzt wegen des Corona-Desasters steht Trump kurz vor dem US-Urnengang mit dem Rücken zur Wand. "Trump wird eine Rede für das US-Publikum halten", erläutert Richard Gowan, UN-Direktor bei der Friedensinitiative International Crisis Group.
Normalerweise tummeln sich Ende September Dutzende Monarchen, Präsidenten und Premierminister in der UN-Zentrale, nach strengem Protokoll reden sie in der Generaldebatte, sie posieren zum Fototermin und einigen sich auf Projekte. In den Luxushotels rund um den UN-Glaspalast werden Abkommen eingefädelt, besiegelt oder gebrochen. Das turbulente New York gebärdet sich in den Zeiten der UN-Generaldebatte noch hektischer und bietet die Kulisse für großes politische Theater.
Jetzt ist vieles anders. Zwar gibt der Präsident der 75. Vollversammlung, der Türke Volkan Bozkir, trotzig die Parole aus: "Wir sollten diesen historischen Jahrestag in vollem Umfang nutzen, um den unersetzlichen Charakter des auf Regeln basierenden internationalen Systems zu unterstreichen."
Doch ohne Entscheider aus den Hauptstädten verliert die Debatte an politischem Wert, Diplomaten rechnen nicht mit weitreichenden Beschlüssen der 193 Mitgliedsländer. "Unsere Erwartungen an die diesjährige Generaldebatte sind sehr gedämpft", erklärt der Gesundheitsexperte Marwin Meier von der Hilfsorganisation World Vision. "Gerade während der Corona-Pandemie hätten die Staatenlenker zeigen können, dass gemeinsames Handeln und Vereinbarungen für einen gesündere Welt sich auszahlen", bedauert er.
Auch zur Lösung der anderen brennenden Probleme des Planeten dürfte von der virtuellen Generaldebatte kaum oder gar keine Impulse ausgehen: Weder zu einer Befriedung der vielen Konflikte und Krisen, von Afghanistan über Syrien bis Venezuela, noch zu neuen Verpflichtungen, um den immer stärker werdenden Klimawandel noch in den Griff zu bekommen. Auch der Kampf gegen Armut und Hunger, so befürchten World Vision und andere Organisationen, wird keinen neuen Schub erhalten.
Im Jahr 2015 gaben die versammelten Staats- und Regierungschefs bei den UN das große Ziel aus: Wir wollen Armut und Hunger in der Welt bis 2030 beenden. Doch stieg die Zahl der chronisch Hungernden laut dem Welternährungsprogramm (WFP) in den letzten vier Jahren an: von 796 Millionen auf 821 Millionen. Jetzt verschärft die Corona-Pandemie die Mangelernährung. "Langfristig könnte die Pandemie zu Hungersnöten in bis zu 35 Ländern führen", warnt WFP-Chef David Beasley.
Wird zum 75. Geburtstag der UN wenigstens eine neue Reformdebatte für die schwerfällige Weltorganisation beginnen? Organisationen wie die in Berlin ansässige "Demokratie ohne Grenzen" geben sich hoffnungsvoll und fordern eine "Parlamentarierversammlung" für die UN.
"Der Umgang mit der Covid-19-Pandemie oder der Klimakrise zeigt, dass Regierungen im Umgang mit kritischen globalen Fragen nicht effektiv sind", sagt Geschäftsführer Andreas Bummel. "Ein von den Bürgerinnen und Bürgern gewähltes UN-Parlament ist notwendig." Diplomaten aus dem inneren UN-Getriebe winken jedoch beim Thema Reform ab. Eine Aneinanderreihung von Videos, wie bei der Generaldebatte zu erwarten, werde keinen Umbau der UN einleiten.