Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilt zunehmend offen gezeigte Judenfeindlichkeit in Deutschland und ruft zum entschiedenen Kampf dagegen auf. "Es ist eine Schande und beschämt mich zutiefst, wie sich Rassismus und Antisemitismus in unserem Land in diesen Zeiten äußern", sagte sie in Berlin bei einem Festakt zum 70-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dass sich viele Jüdinnen und Juden nicht sicher und nicht respektiert fühlten, mache ihr große Sorgen. Das jüdische Leben sei "ein konstitutiver Teil" - ein bestimmender Teil - Deutschlands, hob die Kanzlerin hervor.
Der Zentralrat der Juden wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet. Derzeit gehören ihm nach eigenen Angaben 105 jüdische Gemeinden mit rund 100.000 Mitgliedern an.
Neuanfang vor 70 Jahren kaum vorstellbar
"Es stimmt, Rassismus und Antisemitismus waren nie verschwunden" sagte Merkel. " Doch seit geraumer Zeit treten sie sichtbarer und enthemmter auf." Beleidigungen, Drohungen oder Verschwörungstheorien richteten sich offen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. "In sozialen Medien triefen viele Äußerungen geradezu vor Hass und Hetze. Dazu dürfen wird niemals schweigen", sagte die Kanzlerin. Der Antisemitismus sei ein Angriff auf Menschen, auf die Menschlichkeit, auf das Menschsein und richte sich gegen die Würde. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit müsse entschieden bekämpft werden.
Merkel würdigte die Arbeit des Zentralrats der Juden, der "kritischer Wächter und Mahner, kompetenter Anwalt jüdischer Anliegen und verlässlicher Partner in Politik und Gesellschaft" sei. Er habe sich in sieben Jahrzehnten um das Land verdient gemacht, für die jüdischen Gemeinden und für ein gutes Miteinander aller Menschen in Deutschland. Dabei sei es vor 70 Jahren noch völlig abwegig gewesen, zu hoffen, dass Juden in Deutschland einen Neuanfang wagen würden.
Wirre Verschwörungsmythen auch heute
Zentralratspräsident Josef Schuster erinnerte daran, dass die jüdische Dachorganisation damals keine auf Dauer angelegte Institution war. Es sei vor allem darum gegangen, den in Deutschland gestrandeten Juden bei der Ausreise zu helfen. Die damaligen Pioniere hätten dem Land der Täter dabei aber einen "riesigen Vertrauensvorschuss" gegeben.
Angesichts der Übergriffe, Ausgrenzungen und Anschläge wie auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 stelle sich heute wieder leise die Frage, "wie sicher wir noch in diesem Land leben können". Wegen der Corona-Pandemie kursierten im Internet die "wirrsten Verschwörungsmythen, die die Juden als Verursacher des Virus sehen". Auf Demonstrationen stilisierten sich Teilnehmer wegen der Auflagen als Verfolgte und hefteten sich den Judenstern der Nazizeit ans Revers. "Ich kenne einige betagte Menschen, die diesen Stern damals tragen mussten. Menschen, die Jahre versteckt ausharren mussten, Menschen die nur knapp überlebt haben", sagte Schuster, Es seien übrigens Menschen, "die die Corona-Auflagen tapfer hinnehmen und keinen Grund sehen, sich darüber zu beschweren". Die Verschwörungsmythen zeigten, dass eine Sensibilität gegenüber NS-Opfern und ein Verständnis der damaligen Situation fehlten.
Der Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER) und Oberrabbiner von Moskau, würdigte den Zentralrat auch als "Zentralrat für die Zukunft jüdischen Lebens hierzulande". In der heutigen Zeit, in der Antisemitismus, rechtsextremer Hass und Verschwörungstheorien wieder einen Nährboden fänden, sei es umso wichtiger geworden, die politische Stimme der in Deutschland lebenden Juden zu sein.
An der Feierstunde zum Zentralratsjubiläum im Innenhof der Neuen Synagoge - Centrum Judaicum nahmen Regierungsmitglieder und Bundestagsabgeordnete teil, der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, sowie weitere Gäste aus Politik, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften.