Frankfurt a.M. (epd). Nach fast neun Jahren Krieg in Syrien zeichnet sich Helfern zufolge eine neue humanitäre Katastrophe unermesslichen Ausmaßes ab. "Eine so große Fluchtbewegung innerhalb kürzester Zeit ist selbst in neun Jahren Syrien-Krieg beispiellos", erklärte der Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, Martin Keßler, am Mittwoch mit Blick auf die anhaltenden Kämpfe in der Region Idlib im Norden des Landes. Nach UN-Schätzungen sind allein seit Anfang Dezember 900.000 Menschen vor der Gewalt in der Provinz Idlib und den angrenzenden Gebieten geflohen.
Luftangriffe und eine Bodenoffensive der syrischen Regierungstruppen und ihrer russischen Verbündeten hätten eine riesige Vertreibungswelle ausgelöst, bekräftigte "Ärzte ohne Grenzen". "Die Situation der Menschen ist verzweifelt", sagte Landeskoordinator Julien Delozanne. "Die Angriffe treffen jetzt Gebiete, die bislang als sicher galten. Die Menschen, die in den Norden fliehen, werden in ständig schrumpfendes Gebiet zwischen der Frontlinie im Osten und der geschlossenen türkischen Grenze im Westen gedrängt." Mitte Februar seien auch Vertriebenenlager bei Sarmada beschossen worden, in denen erst kurz zuvor Zehntausende Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen im Süden Idlibs eingetroffen seien.
In der nahe gelegenen Stadt Takad seien nur die Menschen geblieben, die sich keinen Transport leisten könnten oder nicht wüssten, wohin sie gehen sollten, zitierte die Hilfsorganisation Mustafa Ajaj, bis zu seiner eigenen Flucht Direktor des von "Ärzte ohne Grenzen" unterstützten Gesundheitszentrums in Takad. Krankenhäuser in der Region mussten aufgrund der Kämpfe und Angriffe geschlossen werden.
"Jetzt tritt ein, wovor humanitäre Helfer seit Monaten warnen: Das humanitäre Völkerrecht wird völlig missachtet, Hunderttausende Menschen müssen aus Todesangst fliehen", sagte Keßler von der Diakonie Katastrophenhilfe. Wegen der anhaltenden Kämpfe könnten sie sich kaum in Sicherheit bringen oder Unterstützung bekommen. "Es droht eine riesige humanitäre Katastrophe."
Selbst in Bauruinen fänden die Menschen kaum mehr Platz. "So haben die Flüchtlinge keine andere Chance, als im Freien zu übernachten und das bei klirrender Kälte", sagte der Leiter der evangelischen Hilfsorganisation. Viele Geflohene sind schutzlos den eisigen Temperaturen ausgesetzt, Kinder und Babys sterben laut UN infolge der Kälte.
Die Armee des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, das russische Militär und verbündete Milizen gehen seit April 2019 in Idlib gegen islamistische Kämpfer vor, die sich dort verschanzt halten. In diesem Monat startete die Regierung mit Unterstützung ihrer Verbündeten eine militärische Offensive zur Rückeroberung entscheidender Gebiete um die Städte Idlib und Aleppo. Nach UN-Angaben wurden allein in der ersten Februarhälfte mindestens 100 Zivilisten, darunter 18 Frauen und 35 Kinder, von Regierungstruppen und ihren Verbündeten getötet. Zudem seien zahlreiche Menschen verletzt worden.
Der Syrien-Krieg begann 2011 mit einem Volksaufstand gegen Assad. Rebellen und Terrorgruppen eroberten weite Teile des Landes. Mit Hilfe Russlands und des Irans gewann Assad die meisten Gebiete zurück.