Karlsruhe, Berlin (epd). Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Dienstag die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger teilweise gekippt. Leistungskürzungen von 60 oder 100 Prozent seien unverhältnismäßig und verletzten das vom Staat zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum, entschied das höchste deutsche Gericht in einem Grundsatzurteil. (AZ: 1 BvL 7/16) Bis zur erforderlichen Gesetzesänderung gilt eine Übergangsregelung. Die Jobcenter dürfen das Arbeitslosengeld II ab sofort um nicht mehr als 30 Prozent kürzen. Das Urteil wurde durchweg begrüßt. Befürworter und Gegner der Sanktionen zogen aber unterschiedliche Schlüsse.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete die Gerichtsentscheidung als ein "weises, ausgewogenes Urteil". Es biete eine Chance auf gesellschaftliche Befriedung und gebe Rechtssicherheit in der 15-jährigen Debatte, sagte Heil nach der Verkündigung in Karlsruhe. Er kündigte auch Änderungen bei den Sanktionen für junge Erwachsene an, über die das Gericht nicht entschieden hatte. Unter 25-Jährige werden bisher am schärfsten sanktioniert.
Die Frage, ob Sozialleistungen gekürzt werden dürften, sei "politisch hoch kontrovers und juristisch schwierig", erklärte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, bei der Urteilsverkündung. "Gesichert werden muss die physische und soziokulturelle Existenz", sagte Harbarth weiter. Zugleich stellte das Gericht aber fest, dass Langzeitarbeitslose zur Mitwirkung verpflichtet sind, damit ihre Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit überwunden werden kann.
Bisher konnten die Jobcenter das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent kürzen, wenn jemand zweimal einen Job ablehnte, beim dritten Mal vollständig. Das Gericht urteilte nun, eine 30-prozentige Kürzung sei wegen der Abschreckungswirkung noch plausibel und zumutbar, mehr aber nicht. Es verpflichtete die Jobcenter, Härtefälle zu prüfen und gegebenenfalls künftig auf die Kürzung ganz zu verzichten. Außerdem sei die Regelung zu starr, wonach die Leistung stets drei Monate lang verringert wird. Die Betroffenen müssten die Möglichkeit haben, ihr Verhalten zu ändern und schneller wieder höhere Geldleistungen zu bekommen.
Die im Grundgesetz definierte Menschenwürde stehe allen zu und gehe selbst durch vermeintlich unwürdiges Verhalten oder schwerste Verfehlungen nicht verloren, argumentierte der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts. Das Sozialstaatsprinzip verlange staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene, "die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind", heißt es in dem Urteil weiter.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit kürzen die Jobcenter jährlich acht Prozent der Langzeitarbeitslosen die Hartz-IV-Leistungen. Die Richter in Karlsruhe verlangten auch, dass der Gesetzgeber mehr tun muss, um die Wirkung der Sanktionen präzise einschätzen zu können.
Die Arbeitgeber werteten das Urteil aus Karlsruhe als Bestätigung des Prinzips des Förderns und Forderns und betonten, notwendige und praktikable Sanktionsmöglichkeiten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Gewerkschaften und Sozialverbände verlangten in einer gemeinsamen Erklärung hingegen die vollständige Abschaffung der Sanktionen und forderten ein "menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung". Bei den Parteien stieß der Richterspruch erwartungsgemäß auf geteilte Reaktionen.
Die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, bezeichnete die Karlsruher Entscheidung als ein "historisches Urteil" und als "echten Quantensprung zu sozialen Garantien". Danach seien Sanktionen, die 30 Prozent überschreiten, unvereinbar mit der Menschenwürde. Gemeinsam mit den Grünen werde die Linke weiter im Bundestag für eine vollständige Sanktionsfreiheit kämpfen, kündigte Kipping an.
Gegen die Sanktionen hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Thüringen geklagt. Er hatte eine vom Jobcenter Erfurt vorgeschlagene Stelle als Lagerarbeiter abgelehnt und einen Vermittlungsgutschein für eine Probearbeit verfallen lassen, woraufhin ihm die Leistungen um 60 Prozent gekürzt worden waren. Das Sozialgericht Gotha hielt die Sanktionsregelungen für verfassungswidrig.
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