Rechtsexperte: Seenotrettung für Migrationsströme ist "Neuland"

Rechtsexperte: Seenotrettung für Migrationsströme ist "Neuland"
Das Seerecht muss modernisiert werden, meint der Kieler Rechtsprofessor Uwe Jenisch. Er regt ein internationales Symposium an, um die Grundlagen für ein zeitgenössisches Recht der Seenotrettung zu entwickeln.
03.08.2019
epd
epd-Gespräch: Christina Denz

Kiel (epd). Zwischen ziviler Seenotrettung und den Mittelmeer-Anrainerstaaten kommt es erneut zu Spannungen über die Aufnahme von Bootsflüchtlingen. Dabei gibt es eine Reihe von Seerechtsregelungen zur Seenotrettung. Über deren Auslegung und dringend nötige Neuerungen sprach der Evangelische Pressedienst (epd) mit dem Kieler Rechtswissenschaftler Uwe Jenisch vom Walter-Schücking-Institut für internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

epd: Herr Jenisch, die rechtliche Situation für die Seenotrettung ist verworren: Es gibt altes und neues Seerecht, Flüchtlingsrechte, ein Seerechtsübereinkommen, das SOLAS-Übereinkommen, EU-Richtlinien, das Seenotrecht. Und am Ende gibt es noch ein gelebtes Seerecht. Muss man da nicht mal aufräumen?

Uwe Jenisch: Zunächst: Das Recht der Seenotrettung ist uralt und gewohnheitsrechtlich gewachsen. Seine Ursprünge gehen auf die Antike zurück. Damals galt der Seemann als besonders mutiger und ehrenwerter Beruf, weil sie sich in die Hände der Götter begaben und Waren und Personen sorgfältig unter großen Risiken von Land zu Land transportierten. Ihr Schutz war ein Gastrecht, daraus hat sich die Verpflichtung zur Hilfe für Seeleute und Schiffen in Not, also die Seenotrettung, und das das heutige völkerrechtlich bindende Seerecht entwickelt. Danach sind alle Staaten und Kapitäne verpflichtet, Menschen und Schiffen in Seenot zu helfen, auch Skipper von Segelbooten. Einzige Einschränkung: Die Rettung darf das eigene Schiff und die Mannschaft nicht in ernste Gefahr bringen.

epd: Dann ist die Rechtslage für zivile Seenotretter doch nicht so kompliziert?

Jenisch: Die Verpflichtung der Staaten, Seenotrettungsdienste einzurichten und die Seenotrettung in ihren Sicherheits- und Rettungszonen, also den SAR-Zonen, zu organisieren, ist für ganz normale Seenotfälle entwickelt worden, also wenn ein Fischer in stürmische Gewässer gerät, ein Handelsschiff brennt oder eine Fähre in Seenot gerät. Die Rettungsdienste sind nicht konstruiert, um Migrationsströme zur See in den Griff zu bekommen. Das ist Neuland.

epd: Sie zielen auf eine Modernisierung des Seerechts?

Jenisch: Eine Weiterentwicklung wäre durchaus nötig. Dazu könnte die Wissenschaft ihren Teil leisten, etwa in einem Symposium oder einer internationalen Seerechtskonferenz. Wir haben ja in Deutschland unter anderem am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg und in einigen Universitäten ausgewiesene Experten. Die Ergebnisse der Konferenz könnte die UNO aufgreifen, die EU könnte daraus Verordnungen und Richtlinien für den europäischen Seerechtsraum entwickeln. Allerdings muss neu gedacht werden: Die Schnittstellen der Seenotrettung zum Flüchtlings- und Asylrecht, zu den Menschenrechten und zur Organisation der Küstenwachen wären ebenso weiterzuentwickeln wie insbesondere die regionale Zusammenarbeit der Staaten auf See.

epd: Wie können die zivilen Seenotretter derzeit rechtlich argumentieren?

Jenisch: Die Seenotrettung ist zunächst eine Staatspflicht. Und sie wird auch erfüllt. Malta und Italien, aber auch die Deutsche Marine, retten bis heute mit eigenen Schiffen in Seenot geratene Flüchtlinge. Die NGOs argumentieren jedoch, dass die staatliche Seenotrettung unzulänglich und überfordert ist. Sie sagen, dort, wo die staatliche Rettung versagt, müssen wir helfen. Das ist von der humanitären Seite her nachvollziehbar. Und auch rechtlich ist das in Ordnung. Sie können sich auf das Seerechtsübereinkommen und das Solas-Übereinkommen von 1974 berufen. Solas steht für ein internationales Übereinkommen zur Schutz menschlichen Lebens auf See. Darin ist für jeden Kapitän niedergelegt, Seenotrettung zu betreiben, sofern er es für sein Schiff verantworten kann.

epd: Welche Pflichten ergeben sich für die NGOs daraus bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Jenisch: Jeder Seenotfall muss der zuständigen Seenotleitzentrale gemeldet werden. Diese ist zur Koordinierung der Rettungsmaßnahmen verpflichtet. Die Zentren erteilen den Schiffen Anweisungen und können sichere Häfen angeben oder Hilfe wie Hubschrauber organisieren. Patentrezepte gibt es da nicht. In jedem einzelnen Fall muss neu entschieden werden. Es könnte durchaus sein, dass ein Herzinfarkt am Bord es erfordert, zum nächstgelegenen Krankenhaus ausgeflogen zu werden. Und das könnte durchaus Libyen sein. Oder wenn ein Tanker brennt und Öl ausläuft, dann wird man ihn in einen Hafen schleppen, in dem man das Problem am besten bewältigen kann. Diesen weiten Ermessensspielraum nutzen die italienischen Behörden derzeit aus und sagen: Bei uns bitte gerade keine Flüchtlinge anlanden, weil wir das nicht mehr bewältigen können. So kommt es dazu, dass Rettungsschiffe im Mittelmeer herumirren.

epd: Wie bewerten sie die Entscheidung von "Sea-Watch 3"-Kapitänin Carola Rackete, dennoch in den Hafen von Lampedusa einzulaufen?

Jenisch: Sie hat sich wohl auf die letzte Zufluchtsmöglichkeit berufen, die man als Kapitän nehmen kann, das historisch gewachsene Nothafenrecht. Das heißt: Wenn ein Schiff nicht mehr seetüchtig ist, etwa wenn es zu sinken droht, dann haben die Schiffe das Recht, einen Nothafen anzulaufen. Das Rettungsleitzentrum kann normalerweise diesen Nothafen zuweisen. Aber letztlich bleibt es eine allerletzte Güterabwägung des Kapitäns. Das gilt übrigens auch, wenn das Schiff zum Umweltproblem wird, etwa, wenn die Fäkalientanks überlaufen oder Schwerkranke an Bord sind. Das Nothafenrecht gibt es auch im Völkerrecht. Deshalb müssen Staaten Notliegeplätze bereit halten. Dies hatte Carola Rackete wohl im Auge und gedacht, "Ich kann mir nicht mehr helfen, es geht jetzt nicht mehr anders". Kommt es zu einer Gerichtsverhandlung wird sicher überprüft, ob der Notfall tatsächlich vorlag. Aus Sicht der Italiener war das angeblich nicht zwingend der Fall, denn sie hatten viele Tage vorher die Notfälle von Bord geholt. Damit war für sie der Notfall vorübergehend abgewendet. Aber meiner Ansicht nach hatte Frau Rackete am Ende gute Gründe, sich erneut auf das Nothafenrecht zu berufen.

epd: Warum stellt sich Italiens Innenminister Matteo Salvini dann quer?

Jenisch: Dreh- und Angelpunkt dieser Frage ist am Ende natürlich die politische Entscheidung, welches Land die Flüchtlinge endgültig aufnimmt. Man kann für Italien durchaus Verständnis aufbringen. Über Jahre haben sie Hunderttausende von Flüchtlingen mindestens die Erstaufnahme ermöglicht und damit den Löwenanteil der Rettung von staatlicher Seite bewältigt. Dass es dem Land irgendwann zu viel wird und die EU-Solidarität sehr zu wünschen übrig lässt, ist offensichtlich. Bemerkenswert ist aber auch, dass die italienische Zivilgesellschaft und die katholische Kirche sich eindeutig für die Flüchtlingsrettung aussprechen. Selbst die Bevölkerung in Lampedusa hilft immer wieder mit, wenn Flüchtlinge von Bord kommen. Es ist im Grunde der italienische Innenminister und seine Partei, die da die harte Linie fahren.

epd: Aus ihrer Sicht muss also neben einer rechtlichen Bewertung dringend eine politische Lösung stehen?

Jenisch: Auf alle Fälle.