Gedanken über einen neuen Tugendkatalog

Tugend
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Es gehöre zur "Demenz dieser Gesellschaft", dass die Weisheit der Alten vergessen werde. Die sieben Tugenden – zu denen Mäßigung, Gerechtigkeit, Klugheit und Liebe zählen – kenne heute niemand mehr, so Gronemeyer.
Gedanken über einen neuen Tugendkatalog
Um sich einer immer schneller verändernden Welt zu stellen, schlägt der Gießener Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer vor, dass die Gesellschaft über einen neuen Tugendkatalog diskutieren müssen. So könne man den Einsamen, den Ausgebrannten und vielen anderen helfen.

Ein neuer Tugendkatalog kann nach Ansicht des Gießener Theologen und Soziologen Reimer Gronemeyer helfen, die Probleme der Zeit zu meistern. "Der alte Tugendbegriff ist verstaubt und klingt gerade bei Jüngeren altväterlich", sagte Gronemeyer dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gehöre zur "Demenz dieser Gesellschaft", dass die Weisheit der Alten vergessen werde. Die sieben Tugenden - zu denen Mäßigung, Gerechtigkeit, Klugheit und Liebe zählen - kenne heute niemand mehr. Dennoch habe er das Gefühl, dass in einer von Geld und Konkurrenz bestimmten Gesellschaft bei den Menschen "eine Sehnsucht danach da ist".

Es gebe viele Zeichen, dass Deutschland seine führende wirtschaftliche Rolle im Vergleich mit China verliere: "Wir werden unseren Wohlstand nicht halten können." Eine Million Arten seien vom Aussterben bedroht. Vereine, Zeitungen, Kirchen und Familien seien im Verschwinden begriffen. "Wie antworten wir darauf - mit einer Steigerung des Leistungsdrucks?", fragte der Autor des neuen Buches "Tugend. Über das, was uns Halt gibt". Schon jetzt steige die Zahl der Ausgebrannten. "Die Mehrzahl weiß, es ist falsch, und will ein anderes Leben."

Frühere Jahrhunderte seien keine goldenen Zeiten gewesen, aber einen Tugendkatalog habe es gegeben. Gronemeyer forderte daher: "Wir müssen den Tugendkatalog reformieren." In einer "Gesellschaft der Einsamen und Überlasteten" brauche es "verlässliche Freundschaften". Er meinte damit allerdings nicht zweihundert Freunde auf Facebook, die für den Wissenschaftler "ein Trauerspiel" sind.

Gronemeyer riet zu einer Gelassenheit im Sinne von "die Maschine langsamer laufenlassen". Und zu einer Art Askese, im ursprünglichen griechischen Wortsinn angewandt als Versuch, den Verzicht auf Überflüssiges zu üben. "Dadurch können wir Zeit für den anderen gewinnen." Spätestens jetzt müssten die Menschen den Vogel und den Baum als Mitgeschöpfe entdecken. Anstelle der Raserei nach Geld und Karriere müsse das Nachdenken treten: "Was brauche ich alles nicht?" Allerdings gelte es zunächst einmal auszuhalten, "dass wir uns in einer hochdramatischen Situation befinden".