Der Kasseler Bischof Martin Hein hat zu einer Diskussionskultur der Besonnenheit aufgerufen. Es führe zu nichts, über das in der Öffentlichkeit verbreitete Geschrei ebenfalls ein Geschrei zu erheben, sagte der evangelische Theologe am Montagabend in Brüssel. Denn Geschrei als "Produkt des schnellen Denkens" bilde für die liberale Gesellschaft "eine massive Bedrohung mit enormer destabilisierender Energie, egal, ob in Chemnitz auf der Straße, im Feuilleton einer etablierten Zeitung oder in einer Talkshow".
Wer schreie, müsse nicht Unrecht haben, sagte der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Doch verstärke das Geschrei sich selbst und verhindere den Kontakt, so dass es sein eigenes Problem verstärke, argumentierte Hein bei einer Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Europa im Gespräch".
Demut als Grundlage für die Debatte
Dem Geschrei setzte der kurhessische Bischof eine aus christlicher Perspektive entwickelte praktische Ethik gegenüber, die er zunächst am Apostel Paulus festmachte. Dieser habe den Begriff der Demut entgegen der herrschenden Deutung nicht als Unterordnung verstanden, sondern als " freiwillige Zuordnung von Menschen untereinander, die einander die gottgegebene Würde zugestehen". Mit der Demut korrespondiere die Bescheidenheit als Einsicht in die das Verstehen übersteigende Größe der Welt und die Besonnenheit als die passende Verhaltensweise, erklärte Hein.
Konkreten Ausdruck findet die Besonnenheit dem Theologen zufolge unter anderem in einer Langsamkeit, die sich dem intuitiven Reagieren verweigere, jedoch nicht Verstummen meine, sondern Hören und Reden ermögliche. Menschen könnten dazu das Gebet suchen, gerade wenn "sie von Ereignissen heimgesucht werden, die geeignet sind, im Geschrei zu enden". Dieses erscheine geradezu als eine natürliche Reaktion, die die Kirche ernst nehmen solle, sagte Hein.
Kirchen machen nicht die bessere Politik
Die Rolle der Religion und der Kirchen im Umgang mit öffentlichem Geschrei beschrieb der Bischof differenziert. Man könne nicht unmittelbar aus der Bibel Regeln für jede einzelne Situation ableiten. Die Kirche solle auch nicht als "siebte oder achte Partei" auftreten, sagte er in der Diskussion mit dem Publikum: "Kirchen machen nicht die bessere Politik." Wohl aber könnten sie Raum für Reflexion ermöglichen, zur Langsamkeit ermutigen und so zur Versachlichung politischer Fragen beitragen.
Mit Blick auf die Diskussionen in der Europäischen Union warb der kurhessische Bischof in der EU-Hauptstadt um ein zurückhaltendes Auftreten gegenüber östlichen Mitgliedsländern. Man solle Verständnis für Länder aufbringen, die noch keine jahrzehntelange Demokratie hinter sich hätten. Er halte etwas mehr Bescheidenheit und die Beachtung der Traditionen, aus denen diese Staaten herausgekommen seien, für notwendig. So finde er zwar die ungarische Abschottungspolitik in der Migrationsfrage problematisch, sagte Hein. Die Politik lasse sich aber durch einen Blick in die Geschichte des Landes besser verstehen.