Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. (Lukas 10,30 –35)
Liebe Freundinnen, liebe Freunde des anregenden Verzichts,
die erste Fastenwoche ist vorbei, und ich hoffe und wünsche Ihnen, dass es eine gesegnete Woche war, und dass Sie diesen Segen jeden Tag erkennen konnten. Mussten Sie das eine oder das andere Mal am Abend dem Tag einen Segen abringen? Nun, dann beglückwünsche ich Sie zu jedem gewonnenen Ringkampf. Es soll ja darum gehen, dass wir nicht kneifen, sondern uns solchen Herausforderungen stellen, die nötig sind und uns weiterbringen. „Zeig dich“ heißt unser Motto, und in dieser zweiten Woche: „Zeig dein Mitgefühl“.
Der Text, der zu diesem Wochenmotto gehört, erscheint geradezu zwangsläufig. Was sonst, wenn nicht „Der barmherzige Samariter“? Ich gebe zu, dass mich die Auswahl ausgerechnet dieses Textes zunächst enttäuscht hat. Ich hätte mir etwas gewünscht, das origineller ist. Ich hätte gern über einen Text geschrieben, den nicht vermutlich 99 Prozent meiner Leserinnen und Leser bereits kennen. Aber ich gebe ebenso gern zu, dass ich sehr bald anders dachte. Mir wurde nämlich bewusst, dass es genau deswegen der richtige Text ist, weil er uns so bekannt ist, weil wir ein wenig Langeweile verspüren, wenn wir ihn wieder lesen. Denn genau das ist das Problem: Wir kennen uns aus. Wir wissen Bescheid, wie es zugeht in der Welt. Wir wissen um die Gewalt, wir wissen um die Kriege, den Hunger und die Ungerechtigkeit. Und weil wir uns auskennen, spüren wir kaum noch etwas, wenn uns ein Unglück begegnet, das nicht das eigene ist.Wie war das in der letzten Woche? Da erschoss ein junger Mann 17 Jugendliche in seiner ehemaligen Schule in Florida. Fragen wir uns ruhig einmal offen: Wie viel Mitgefühl habe ich zugelassen, als ich davon erfuhr? Und: Wie veränderte sich das Gefühl, als ich hörte, dass es bereits mehrere Schießereien in amerikanischen Schulen in diesem Jahr gab? Wurde mein Mitgefühl stärker, oder nahm ich lieber die Chance wahr und konnte mein Mitleid in Wut verwandeln? Wut auf die Amerikaner, die tödliche Waffen wie Kaugummi und Cola verkaufen? Ich persönlich habe in der letzten Woche sehr schnell diesen leichten Weg gewählt. Ich hatte viel zu tun, wollte mich nicht lange damit auseinandersetzen und sah in dem Tod der 17 Jugendlichen nur einen weiteren Beweis dafür, wie gewalttätig und schlecht die Welt eben ist.
Mit meiner Reaktion habe ich mich also genauso verhalten, wie die beiden Männer, die in der Geschichte vom barmherzigen Samariter an dem Opfer vorbeigehen. Ich traue sowohl dem Leviten als auch dem Priester zu, dass sie Mitgefühl für den Zusammengeschlagenen hatten. Nur flammte es zu kurz auf, als dass sie etwas hätten tun können. Ich kann es nicht wissen, aber ich stelle mir vor, dass beide sich über die zunehmende Gewalt ärgerten. Ich denke, dass es ihnen so wie mir ging: Wir sind desensibilisiert.
Natürlich gibt es einen gewichtigen Unterschied zwischen der Schießerei in Florida und der Geschichte in der Bibel: Die Leute, die an dem Zusammengeschlagenen vorbeigehen, hätten direkt und sofort etwas tun können. Das ist uns nicht in dem Sinne möglich, wenn es um Schießereien in fernen Ländern geht. Aber darauf kommt es mir nicht an, sondern auf das Mitgefühl an sich, denn nur wer das Mitgefühl tatsächlich stark spürt, wird es auch zeigen und schließlich etwas unternehmen. Ich möchte diese Woche mit Ihnen nutzen, dass wir uns für das, was unser Mitgefühl anregt, wieder empfänglich machen, sozusagen eine Re-Sensibilisierung unserer Wahrnehmung.
Re-Sensibilierung! Kneif Dich!
Sie haben richtig gelesen. Meine Idee für diese Woche ist, dass wir für die Unglücksfälle, die uns begegnen, und die nicht unsere eigenen sind, wieder sensibel werden, indem wir uns selbst kneifen, wenn uns ein solches Unglück begegnet. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir sofort etwas unternehmen können oder nicht. Es soll lediglich zunächst dazu dienen, das Mitgefühl besser wahrzunehmen.
Darum: Wenn Sie Ihr Mitgefühl spüren, kneifen Sie sich! Es geht natürlich nicht darum, dass Sie sich Schmerz zufügen. Vielmehr soll es ein Kneifen sein, das Ihnen deutlich macht: Da ist bereits etwas, das tut weh. Nehmen Sie sich die Zeit, Ihr Mitgefühl zu spüren und versuchen Sie, dabeizubleiben: bei dem Schmerz, den jemand anderes gerade fühlt. Geben Sie nicht der Versuchung nach, allgemein zu werden, das Gefühl einzuordnen in ein großes Ganzes. Das ermöglichte dem barmherzigen Samariter, sein Mitgefühl zu zeigen: Er blieb bei dem einzelnen Menschen zu seinen Füßen.
Also, kneifen Sie sich! Resensibilisieren Sie sich, und dann machen wir uns gemeinsam darauf gefasst, dass wir wieder etwas tun wollen.
Ich grüße Sie von Herzen!
Ihr Frank Muchlinsky