Die 65-jährige Inderin Sajida Begum lebt von einer mageren Rente von 1.000 Rupien (13 Euro) im Monat. Doch seit August ist sie von Almosen und dem Essen abhängig, das sie im Krankenhaus erhält, wo sie behandelt wird, wie indische Medien berichteten. Begum ist Lepra-Patientin, die durch die Krankheit erblindet ist und ihre Fingerspitzen und Zehen verloren hat. Doch ihre Heimatstadt Bangalore hat die Auszahlung von Renten mit einer biometrischen Identifizierung verknüpft.
Auch die Vergabe von Lebensmittelhilfen und anderen sozialen Leistungen wird mit der nationalen Aadhaar-Datenbank verknüpft, die Iris-Scans und Fingerabdrücke erfordert. Begum hat keine solchen biometrischen Merkmale mehr und kann sich daher nicht ausweisen. Sie ist nicht allein mit ihrem Schicksal: Indien hat um die 90.000 Lepra-Patienten.
Im September 2010 begann Indien, die ersten Aadhaar-Karten auszugeben. Die Registrierung eines jeden Bürgers mit einer zwölfstelligen Nummer sollte gerade den Armen nutzen, die oft keine Lebensmittelhilfen oder kein subventioniertes Kochgas erhielten, weil sie keine Ausweise haben. Inzwischen sind über 1,2 Milliarden Inder - fast die gesamte Bevölkerung - mit einer Aadhaar-Nummer ausgestattet.
Die vergangenen sieben Jahre haben Mitarbeiter des Aadhaar-Projektes jeden Winkel Indiens besucht, um Namen, Fotos, Fingerabdrücke und Iris-Scans aller Inder aufzunehmen. Das Projekt sah ursprünglich eine freiwillige Registrierung vor, doch davon ist nun keine Rede mehr. Nur wer in der nationalen Datenbank registriert ist, kann künftig ein Bankkonto, eine Telefonnummer oder Kreditkarte haben, eine Ehe schließen, Grundstücke eintragen lassen oder Steuern zahlen.
Bereits jetzt müssen Arme, die wie die Lepra-Patientin Begum in Bangalore Sozialleistungen in Anspruch nehmen, ihre Aadhaar-Nummer vorweisen und sich mit Fingerabdrücken identifizieren. "Gibt es ein Leben nach Aadhaar?", fragte kürzlich eine Zeitung angesichts der umfassenden Datensammlung. Kürzlich machte die Verwaltung in der südindischen Stadt Hyderabad Aadhaar sogar für einen Bar-Besuch obligatorisch.
Widerstand gegen das Projekt regte sich bereits 2010, als die ersten Karten ausgegeben wurden. Sprecher der Dalits, die früher als unberührbar galten und noch heute unter Diskriminierung leiden, gaben zu bedenken, dass Aadhaar sie für immer auf ihre Identität festlege. Denn die sogenannten Kastenlosen legen mitunter ihren Dalit-Namen ab, um der Ausgrenzung zu entgehen.
Schon 2010 warnten Datenschützer und Bürgerrechtler davor, dass das Mega-Datenprojekt in seiner Anlage totalitär, verfassungswidrig und freiheitsbeschränkend sei. Der seit 2014 regierende Premierminister Narendra Modi, der als Oppositionspolitiker ein Gegner des Projektes war, ist jedoch inzwischen ein mächtiger Befürworter.
Der Menschenrechtsanwalt Shyam Divan, der vor Gericht gegen Aadhaar klagt, vertritt die Meinung, dass das Daten-Projekt die Beziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat verändert. Man könne nicht auf der einen Seite sagen, die Registrierung sei freiwillig, wenn auf der anderen Seite verlangt wird, dass eine Aadhaar-Nummer in die Steuererklärung eingetragen wird.
Kapil Sibal, früher Minister für Informationstechnologie, ist ebenfalls ein vehementer Gegner von Aadhaar: "Wer immer die Daten kontrolliert, hat die Macht", zitiert Sibal aus der Rede von Premierminister Modi beim jüngsten Weltwirtschaftsforum im Schweizer Kurort Davos. "Die globalen Unternehmen brauchen Aadhaar, nicht die Armen?, kritisiert der Ex-Minister.
Datenschützer beklagen zudem Defizite bei Transparenz und Sicherheit. Offenbar sind Daten schon für 500 Rupien, umgerechnet 6,30 Euro, im Internet zu kaufen. Journalisten der Zeitung "The Tribune? erhielten von einem anonymen Verkäufer über Whatsapp und einen digitalen Bezahlservice Zugang zum Aadhaar-System. Die Regierung bestreitet jedoch vehement, dass es Datenlecks gibt.
Das Oberste Gericht Indiens erklärte Ende Januar, die Datenschutz-Sorgen müssten ernst genommen werden. Dass Privatfirmen Zugang zum Aadhaar-System hätten, sei sehr bedenklich. Andererseits könne nicht bestritten werden, dass es den Bürgern Nutzen bringe. Die gerichtliche Prüfung zur Verfassungsmäßigkeit des Projekts dauert an.