Geißler galt als Querdenker und unbequemer Mahner. In seiner langen politischen Karriere bezog er sich immer wieder auf die christliche Soziallehre als Koordinatensystem. In den letzten Jahren trat er vor allem als Schlichter in großen Tarifkonflikten hervor. Von den christlichen Kirchen forderte der Katholik mehr soziales und politisches Engagement und rief zur Überwindung der Kirchenspaltung auf. Sein Tod löste in der Politik große Betroffenheit aus.
Von 1967 bis 1977 war Geißler Minister für Soziales, Jugend, Gesundheit und Sport des Landes Rheinland-Pfalz, von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett von Helmut Kohl. Das Amt des Generalsekretärs der CDU - das sein Bild in der Öffentlichkeit maßgeblich prägte - hatte er von 1977 bis 1989 inne. 1965 war der Vater dreier Kinder zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt worden.
Merkel: Herausragender Christdemokrat
Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Geißler als Politiker mit Rückgrat. Mit ihm verliere "unsere Partei einen herausragenden Christdemokraten, einen leidenschaftlichen Verfechter der katholischen Soziallehre und einen beherzten Kämpfer für die soziale Marktwirtschaft", heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Erklärung von Merkel und CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Geißler habe die Politik der Bundesrepublik Deutschland und der CDU fast ein halbes Jahrhundert hinweg entscheidend mitgeprägt, fügten Merkel und Tauber hinzu: "Er war unter anderem Minister in Rheinland-Pfalz, Bundestagsabgeordneter, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit sowie stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Von 1977 bis 1989 diente er der CDU als Generalsekretär - so lange wie niemand vor und nach ihm." Die beiden CDU-Politiker bezeichneten Geißler als "intellektuell herausragend, rhetorisch brillant, streitbar und selbstbewusst". Er habe sich über alle Parteigrenzen und politischen Lager hinweg höchste Anerkennung, Vertrauen und Respekt erwoben: "Nach seiner aktiven politischen Laufbahn vermittelte er in verschiedenen Tarifkonflikten und war mehrfach als Schlichter tätig, zuletzt beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21."
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte den verstorbenen CDU-Politiker Heiner Geißler als Vorbild. Das Land verliere "eine unvergleichliche politische Persönlichkeit, die bis ins hohe Alter gerade auch für junge Menschen Vorbild war", heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Kondolenzschreiben Steinmeiers an die Witwe des Verstorbenen. Geißler habe über Jahrzehnte das Land mitgeprägt, erklärte Steinmeier. "Er war mit einer Leidenschaft Politiker und mit einer Hingabe Mitgestalter unseres Gemeinwesens, die selten zu finden waren und sind", schreibt das Staatsoberhaupt. Er hob Geißlers christliche Überzeugung hervor, die dessen Reden und Handeln geprägt habe. "Dass er im demokratischen Streit gelegentlich seine polemische Begabung einzusetzen wusste, hat ihm Ärger eingebracht, aber letztlich oft zur Klärung politischer Fragen beigetragen", schreibt der Bundespräsident weiter. Geißler habe aber auch Wege zur Versöhnung und zum Ausgleich zu gehen gewusst, ergänzte Steinmeier und verwies auf die Rolle des CDU-Politikers als Schlichter beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21.
Gabriel: Prägende politische Gestalt
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) würdigte Geißler: "Er war für seine Partei und für viele Bürger unseres Landes eine prägende politische Gestalt der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. An der Auseinandersetzung mit seiner pointierten Sicht auf die Linke und die Sozialdemokratie ist die Diskussionskultur Deutschlands gewachsen."
Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) würdigte ihren Vorgänger im Amt als streitbaren Sozialpolitiker, "dem der soziale Ausgleich in unserem Land immer ein Herzensanliegen war". Barley: "Heiner Geißler hat sich um die Familien in unserem Land verdient gemacht. Meine Gedanken sind bei seiner Familie und seinen Freunden."
Kauder: Modernisierer und Brückenbauer
Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) erklärte auf Twitter: "Heiner Geißler hat die CDU geprägt: Soziale & ökologische Verantwortung, Menschlichkeit. Ich bin tief erschüttert. Sein Vermächtnis bleibt." Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet? (CDU) bezeichnete Geißler als "intellektuell brillant": Er sei einer "unserer Besten" gewesen.
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, nannte Geißler einen Modernisier und Brückenbauer mit "Weitblick, Scharfsinn und Eloquenz". Kauder: "Heiner Geißler dachte und handelte eigenständig, eckte an und war offen für die Diskussion über die Parteigrenzen hinweg. Auch nach dem Ausscheiden aus seinen politischen Ämtern blieb er uns in der Partei und in der Bundestagsfraktion ein wichtiger Wegweiser."
Bedford-Strohm: Er hatte wirklich etwas zu sagen
Auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, zeigte sich betroffen vom Tod des früheren CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler. "Er hatte wirklich etwas zu sagen. Und selbst da, wo er zuweilen in der Schärfe der Kritik überzog, lohnte es sich immer, über deren Kern nachzudenken. Er wird uns fehlen", heißt es in einem Facebook-Beitrag des bayerischen Landesbischofs. "Noch vor wenigen Monaten bin ich ihm in unserem Landeskirchenamt in München begegnet, wo wir gemeinsam an einer Kuratoriumssitzung der Stiftung 'Wings of Hope' für traumatisierte Kinder und Jugendliche teilnahmen", fügte Bedford-Strohm hinzu: "Ich habe noch seine Beiträge zu unserer Diskussion im Ohr, denen alle aufmerksam lauschten."
Geißler stammte aus einer katholisch geprägten Beamtenfamilie und wollte eigentlich Priester werden. Er wurde am 3. März 1930 in Oberndorf am Neckar (Baden-Württemberg) geboren. Nach seinem Abitur am Jesuitenkolleg in St. Blasien trat er zunächst dem Jesuitenorden bei, den er jedoch nach vier Jahren wieder verließ.
Er selbst habe mit den Jahren angefangen, "an Gott zu zweifeln", bekannte Geißler noch Anfang dieses Jahres in einem "Zeit"-Interview. Dabei rügte er die beiden großen Kirchen: "Mich packt der heilige Zorn, wenn ich an die offizielle evangelische und katholische Theologie denke." Die katholische Kirche könne "sich noch nicht einmal auf ein gemeinsames Abendmahl einigen. Die politische Dimension des Christentums steht während der gesamten Reformationsfeierlichkeiten im Hintergrund. Das ist absurd, ein groteskes Missverständnis des Evangeliums."
Nach dem Studium der Philosophie sowie der Rechtswissenschaften in München und Tübingen und einer Promotion 1960 an der Universität Tübingen legte Geißler 1961 sein zweites juristisches Staatsexamen ab. Er arbeitete zunächst als Richter, dann als Leiter des Ministerbüros des Arbeits- und Sozialministers von Baden-Württemberg.