Der Integrationsforscher Ruud Koopmans hält die von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) angestoßene Leitkultur-Debatte zum Beispiel für notwendig. "Nicht nur Deutschland, jedes Land der Erde braucht eine Leitkultur, und die stabilen Staaten haben auch alle eine nationale Kultur", sagte Koopmans der Tageszeitung "Die Welt" (Mittwoch). Allerdings beanspruchten "die Gegner der Leitkultur in der Öffentlichkeit die moralische Deutungshoheit und können die Befürworter erfolgreich entweder als rechts abwerten oder lächerlich machen", sagte der Soziologe.
Für den in Berlin lehrenden niederländischen Professor ist "etwas ganz spezifisch Deutsches der Umgang mit der Vergangenheit. Das historische Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, das ist deutsche Leitkultur." Man könne "nicht deutsch sein, ohne sich für den Holocaust zu schämen". Es gebe Einwanderer, die als Deutsche behandelt werden wollten, aber mit dem Holocaust nichts zu tun haben wollten, weil es ja nicht ihre Vorfahren gewesen seien. Das hält Koopmans für eine falsche Haltung: "Wenn sie sich antisemitisch äußern oder Israel das Existenzrecht absprechen, können sie nicht gleichzeitig beanspruchen, als Deutsche behandelt zu werden."
Deutsche Leitkultur nicht mit Grundgesetz vereinbar
Der Philosoph Jürgen Habermas vertritt eine andere Position: Eine deutsche Leitkultur wäre nach seiner Ansicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Eine liberale Auslegung der Verfassung verlange "die Differenzierung der im Lande tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur", schreibt Habermas in einem Gastbeitrag für die in Düsseldorf erscheinende "Rheinische Post" (Mittwoch). Deren Kern sei die Verfassung selbst. Die Thesen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) über eine deutsche Leitkultur hätten ihn erstaunt, schreibt der 87-jährige Habermas.
"Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maizière die Hand zu geben", erklärte der emeritierte Professor für Philosophie und Soziologie. Allerdings müsse die Zivilgesellschaft von eingewanderten Staatsbürgern erwarten, dass sie sich in die politische Kultur einleben, auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lasse. "Die Eingebürgerten können genauso wie die Alteingesessenen ihre eigene Stimme in den Prozess der Fort- und Umbildung dieser Inhalte einbringen", betonte Habermas. Versuche der rechtlichen Konservierung einer Leitkultur widersprächen nicht nur dem liberalen Grundrechtsverständnis, sondern seien auch unrealistisch.
Unterstützung erhielt de Maizière dagegen von CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Er sagte dem Deutschlandfunk, es gehe nicht um ein Gesetz, sondern um eine Debatte darüber, "was unsere Kultur prägt, was unser Zusammenleben ausmacht". Diese Debatte sei ein Wert an sich und es könne dadurch ein Konsens entstehen. Die Kritik vom früheren CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz an dem Beitrag de Maizières bezeichnete Spahn als Einzelstimme in der CDU.
Bundesinnenminister de Maizière hatte in der "Bild am Sonntag" einen Zehn-Punkte-Katalog zur deutschen Leitkultur veröffentlicht. Darin schreibt er: "Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet." Der Minister hob darin unter anderem soziale Gewohnheiten sowie die Bedeutung von Bildung, Kultur und Religion hervor. Der Beitrag stieß auf breite Kritik.