Das große, querformatige Foto zeigt eine Holzwand, auf der nur noch Reißzwecke und Reste von dutzenden Papierzetteln, vielleicht Notizen oder Nachrichten, zu sehen sind. Zwei Deutungen drängen sich förmlich auf. Die erste, naheliegende ist, dass es sich bei dem Motiv um ein schwarzes Brett handelt, dass die Gemeindemitglieder von Jerichow, einem Ort in der brandenburgischen Provinz, zur Kommunikation genutzt haben. Das Bild erzählt noch eine andere Geschichte: die von einer Revolution, von Martin Luthers Thesenanschlag, der vor 500 Jahren die christliche Welt erschütterte.
Was auch immer am 31. Oktober 1517 in Wittenberg geschehen ist, ob Luther wirklich seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt hat oder ob wir dieses eindrucksvolle Bild des Widerstands der aufkeimenden Luther-Verehrung im 19. Jahrhundert zu verdanken haben, sei dahin gestellt. Der Leipziger Fotograf Jörg Gläscher jedenfalls hat die Geschehnisse von damals zum Anlass genommen und sich mit seiner Kamera von August 2015 bis Dezember 2016 auf eine Reise durch Deutschland begeben, um dieses "Lutherland" in Bildern festzuhalten. Das Ergebnis ist nun in der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zu sehen.
"Lutherland ist kein geografischer Ort"
Doch wo liegt dieses Lutherland, das er zu finden hoffte? "Das hängt davon ab, wer antwortet", erklärt der 1966 in Osnabrück geborene Fotograf augenzwinkernd. Mit Recht! Die Allgegenwart Luthers dieser Tage gerät zur "nationalen" Anstrengung. Es gibt derzeit wohl keine einzige Tankstelle entlang der Autobahnen A4 oder A9, die durch das protestantische Kernland von Thüringen bis Sachsen-Anhalt ihre Schneise schlagen, die keine Luther-Devotionalien feilbietet. Doch für Gläscher sind nicht die historischen Orte der rote Faden seines Fotoprojekts: "Lutherland ist kein geografischer Ort, es ist ein abstrakter Begriff. Vielleicht der Startpunkt einer Reise durch ganz Deutschland, um den gelebten Glauben zu finden."
So zeigen die Fotografien dann auch die Fülle protestantischen Lebens in Deutschlands. Gläscher war zu Gast bei einer Taufe in der Elbe bei Dessau, hat einen brandenburgischen Landpfarrer bei seiner Arbeit begleitet, eine aufblasbare Kirche am Strand von Sankt Peter-Ording wie in einem Wimmelbild in Szene gesetzt und die Beerdigung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt in Hamburg besucht. An mehr als 40 Orten war der Fotograf auf der Suche nach dem, was protestantischer Glaube für Menschen heute bedeutet. Die Vielfalt, die ihm dabei begegnet ist, hat ihn überrascht: "Unglaublich, wie viele Spielweisen des Religiösen es gibt, vom Konservativen bis hin zum Jesusfreak." Den gelebten Glauben seiner Protagonisten habe er nie als befremdlich empfunden. Vielmehr sei er beeindruckt gewesen, dass es da manchmal auch sehr lutherische Momente im besten Sinne gab. Dann nämlich, wenn die gläubigen Christen sich auch mal in Distanz oder in Widerspruch zu ihrer eigenen Kirche befanden.
Spannungsverhältnis von Realität versus Ideal
Gläschers Motive, so scheint es beim ersten Hinsehen, sind zumeist nüchtern, profan. Ihm geht es nicht um die imposante Ästhetik christlicher Rituale, die man ohnehin eher bei "weihrauchverliebten Katholiken" vermutet als bei "spröden Protestanten". So ist vielleicht auch eines der eindrucksvollsten Bilder der Schau jenes, das mit Waschanlage und Ampel im Vordergrund den Blick zunächst auf ein typisch deutsches Gewerbegebiet lenkt und erst bei genauerer Betrachtung, die Wartburg in der Ferne preisgibt. Ganz in der Tradition großer US-amerikanischer Landschaftsfotografie dokumentiert der Fotograf hier das Spannungsverhältnis von Realität versus Ideal. Von Luther-Romantik keine Spur. Ein wirklicher Un-Ort eben. Dennoch ist es genau diese Ehrlichkeit, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Gläscher besteht darauf kein Geschichtenerzähler zu sein – lange Erklärungen zu den einzelnen Fotos gibt es nicht – so sind es letztlich die Bilder selbst, die in der ihnen eigenen Vehemenz genau das tun: Geschichten erzählen.
Gläscher selbst ist getauft, konfirmiert und zahlt Kirchensteuer. An Gott, so sagt er, glaubt er nicht. Und doch lotete er während dieser fotografischen Reise durch das Lutherland auch die eigenen Beweggründe für seine bis heute andauernde Mitgliedschaft in der der evangelischen Kirche aus. "Man kennt das ja, abends sitzt man mit Freunden am Küchentisch, diskutiert über Kirche und dass man ja eigentlich auch anstelle der Kirchensteuer, Geld für karitative Zwecke spenden könne. Fakt ist, man tut es am Ende doch nicht."
"Kirche ist relevant"
Vielleicht muss man sich genauer anschauen, welche gesellschaftliche Stimmung herrschte, als Gläscher mit dem Projekt begann. In deutschen Großstädten, auch in seiner Wahlheimat Leipzig, versammelten sich Menschenmassen auf der Straße und skandierten den Untergang des jüdisch-christlichen Abendlandes. Die Demonstrationen von Legida, Pegida und Co. hinterließen beim Fotografen einen schalen Nachgeschmack. Menschen sorgten sich scheinbar um christliche Werte, doch von Nächstenliebe, einer der zentralen christlichen Thesen, war nie die Rede. Und dann gibt es Menschen wie diesen Pfarrer im brandenburgischen Jerichow, den Gläscher zwei Tage begleitet hat. Ein wirklicher Allrounder. Er besucht die älteren Menschen in seiner Gemeinde, engagiert sich in der Jugendarbeit und kümmert sich als Landpfarrer nicht nur um eine Gemeinde. Gläscher wirkt sehr überzeugend, wenn er sagt: "Kirche ist relevant. Wenn ich sehe, was sie an gesellschaftlicher Arbeit leistet, dann hat das einen echten Wert."
Fragt man Gläscher nach dem einen Bild, das ihn am meisten berührt, dann erzählt er von dem Tag, an dem er die Jesusfreaks auf einem ihrer Events im sachsen-anhaltinischen Allstedt mit seiner Kamera begleitete. Sein Blick schweift zur Fotografie einer Sängerin, die er auf einem Parkplatz abgelichtet hat. Im Zentrum des Bildes sieht man eine junge Frau, die Arme um den Vorderkörper geschlungen, mit geschlossenen Augen, madonnengleich in sich gekehrt. Mit genau dieser andächtigen Haltung bildet sie einen erhabenen Kontrapunkt zum schnöden Szenario aus parkenden Autos auf verwitterten Betonplatten. Gläscher erzählt: "Da haben erst drei Leute Kirchenlieder gesungen und am Ende waren es 100." Dieses Erlebnis habe ihn tief beeindruckt. Mit den Jesusfreaks kam es auch zu etwas, das man wohl eine Debatte über den Glauben nennen kann. Bei Kaffee am Morgen und Bier am Abend tauschten der Fotograf und die Christen Standpunkte aus. Und so war der Dokumentar einmal nicht nur Beobachter, sondern auch Teil des Ganzen.