Als Sigrid Falkenstein den so kurzen Lebensweg ihrer Tante erzählt, ist es am Freitag ganz ruhig im Bundstag. Es ist schwer zu ertragen, was Falkenstein dort vorträgt: Die Geschichte ihrer Tante Anna Lehnkering, einer lebensbejahenden, jungen Frau, die 1940 in einer Tötungsanstalt ermordet wurde - weil sie durch ihre Lernbehinderung den Nationalsozialisten als "lästig", als "lebensunwert" galt. Sigrid Falkenstein macht am Freitag in ihrer bewegenden Rede nicht nur auf die grausamen "Euthanasie"-Morde aufmerksam. Sie kritisiert auch deren Aufarbeitung: "Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah äußert stockend und völlig unzureichend."
In seiner Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus rückte der Bundestag in diesem Jahr die Opfer der "Euthanasie"-Morde in den Mittelpunkt. Falkenstein beklagte, die Opfer von "Euthanasie" und Zwangssterilisation seien nicht nur jahrzehntelang vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen gewesen. "Eine Anerkennung als NS-Verfolgte und Gleichstellung mit anderen verfolgten Gruppen wird ihnen bis heute versagt."
Das habe auch Einfluss auf den Umgang der Hinterbliebenen gehabt: "Die Folge von alldem war und ist in vielen Familien ein Teufelskreis von Schweigen, Verdrängen und Tabuisierung des Themas." Es sei "vielleicht ein historisches Ereignis" und ein "Akt später Gerechtigkeit", dass der Bundestag die Erinnerung an diese Opfergruppe in diesem Jahr in den Mittelpunkt seiner Gedenkstunde gestellt habe, ergänzte Falkenstein.
Neben Falkenstein erinnerte Hartmut Traub an seinen Onkel Benjamin Traub, der wegen einer psychischen Erkrankung in der Tötungsanstalt Hadamar umgebracht wurde. Eindringlich schilderte er in seiner Rede die grausame Ideologie der Nazis, in der Kranke und Behinderte diskreditiert wurden. "Man nannte sie 'Ballastexistenzen', 'lebensunwertes Leben'", sagte er.
Lammert: Einzelschicksale lassen Leid erkennen
Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte in seiner Ansprache, dass die Aufarbeitung dieser Morde an Kranken und Behinderten lange Zeit nicht stattgefunden habe. Er forderte dazu auf, sich mit dem Schicksal der Opfer zu befassen. "Erst Einzelschicksale lassen erkennen, was unschuldigen Menschen angetan wurde", sagte Lammert. Ein Aufbegehren gegen die systematische Tötung der als "lebensunwert" verunglimpften Kranken und Beeinträchtigten habe es wenig gegeben. Viele hätten sich damals uneingestanden zum Komplizen dieser Verbrechen gemacht, sagte Lammert.
Bewegt zeigte sich das Parlament auch von der Lesung eines Briefes von Ernst Putzki, der aus einer Tötungsanstalt an seine Mutter schrieb. Schauspieler und Synchronsprecher Sebastian Urbanski verlas den Brief, in dem Putzki seine Situation schildert. Er starb am 9. Januar 1945 - angeblich an einer Lungenentzündung.
Der 27. Januar wurde 1996 in Deutschland zum Holocaust-Gedenktag erklärt, seit 2006 wird an diesem Tag auch weltweit der Opfer gedacht. Anlass ist die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945.