Der französische Nachrichtensender BFMTV, im Ausland wenig beachtet, hat sich in Frankreich selbst über die letzten Jahre zu einem gewichtigen politischen Faktor entwickelt. Der Spartenkanal, gegründet 2005 von dem Medienmanager Alain Weill, wurde im Januar 2015 bekannt, weil es BMFTV-Journalisten gelang, mit den flüchtigen Terroristen, die in der Redaktion des Blattes "Charlie Hebdo" ein Blutbad angerichtet hatten, direkt zu telefonieren. Zunächst mit dem Ziel etabliert, das "französische CNN" zu werden, geht die Wirkung der "revolvierenden Nachrichten" von BFMTV (entstanden aus dem Hörfunksender Business FM) mittlerweile weit über das US-Vorbild hinaus: Kritiker werfen dem Spartenkanal vor, auf unbedingten Sensationalismus zu setzen und die Spaltung der französischen Gesellschaft voranzutreiben (auch als Plattform für "Front National"-Politiker), andere Medienexperten loben die Schnelligkeit und Professionalität der "première chaîne d'info de France" (Eigenwerbung).
In der 25. Ausgabe des "Jahrbuchs Fernsehen" analysiert Fabienne Hurst die Sogwirkung, die BFMTV offenbar auch auf französische Politiker hat. "Der Sender gibt den politischen Ton an und ist dabei hemmungsloser als die Konkurrenz. Einmal fuhr die damalige Justizministerin Christiane Taubira mit dem Fahrrad nach Hause – und wurde 30 Minuten lang von einem BFM-Motorradteam verfolgt, als ginge es um das Begleiten einer Tour-de-France-Etappe", so schreibt "Jahrbuch"-Autorin Hurst. In Krisenzeiten, etwa bei Terroranschlägen, erreicht BMFTV in der Spitze bis zu 15 Prozent Marktanteil in Frankreich, mit hohem technischen Aufwand und perfekter Online-Verbreitung. Welchen Einfluss diese Entwicklung auf die Branche hat und was das für Frankreich bedeutet, analysiert Hurst, die als Autorin für das ARD-Politmagazin "Panorama" arbeitet und unter anderem für "Die Zeit" schreibt, in ihrem Essay präzise und differenziert – ein Text, der auch für den deutschen Fernsehmarkt Bedeutung hat, weil es hier einen "reinen" Nachrichtenkanal à la BMFM-TV bislang nicht gibt.
Wie sieht Fernsehen in Streaming-Zeiten aus?
Mit den im letzten Jahr angekommenen Flüchtlingen hat sich nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch die Rezeption über sie verändert. Wie, verraten die Soziologinnen Nadia Shehadeh und Jasmin Siri. Sie haben unterschiedliche TV-Formate untersucht, die sich mit der Situation von Flüchtlingen befassen. Die Flüchtlingsdebatte, schreiben sie, habe "eingefahrene Wege des Redens und Berichtens über Integration, Migration und die Frage, was denn eigentlich ,deutsch’ ist, infrage gestellt und eine leidenschaftliche Debatte über ,uns’ und ,die Fremden’ ausgelöst, die sich durch alle Medienformate zieht."
Handelsblatt-Medienredakteur Kai-Hinrich Renner beschäftigt sich mit den Strategien der privaten TV-Sender angersichts von Streamingdiensten, VoD und Pay-TV und stellt die Frage, was überhaupt noch "Fernsehen" ist. In seinem Essay beschreibt er fundiert die unterschiedlichen Geschäftsmodelle von RTL und ProSiebenSat.1 und die immer fließender werdenden Übergänge zwischen klassischem TV und Video.
Die Journalistin Sabine Sasse dokumentiert den zunächst sehr einsamen Kampf des investigativen Sportjournalisten Hajo Seppelt um eine realistische Sportberichterstattung. Denn der heute weltweit anerkannte Dopingexperte, der durch seine Recherchen unter anderem dafür gesorgt hat, dass die russischen Leichtathleten für die Olympischen Sommerspiele 2016 gesperrt wurden, galt in der eigenen Branche jahrelang als Nestbeschmutzer und verlor zeitweise sogar seinen Job. Heute gilt er als Pionier und wurde für seine Arbeit auch international mehrfach ausgezeichnet.
Last but not least interviewt Lutz Hachmeister Brainpool-Gründer Jörg Grabosch, der sich auch hätte vorstellen können, Schauspieler zu werden. Mit Formaten wie "Die Harald Schmidt Show", "Die Wochenshow", "TV total", "Schlag den Raab", "Ladykracher", "Pastewka", "Stromberg" oder "PussyTerror TV" hat sich die Kölner TV-Produktionsgesellschaft als Spezialist für leichte Unterhaltung etabliert, Comedians wie Anke Engelke, Bastian Bastewka, Christoph-Maria Herbst und nicht zuletzt Stefan Raab groß gemacht, musste aber auch zuletzt dessen Abgang von der Fernsehbühne verkraften.
Seit 25 Jahren ein unabhängiger Blick auf die Branche
Das Jahrbuch Fernsehen erscheint am 28. Juli 2016 zum 25. Mal. Die erste, 1991 publizierte Ausgabe, war noch schwarzweiß und ohne Bebilderung. Seitdem wurde die Zukunft des Fernsehens von den Auguren mal als "interaktiv" beschrieben, mal wurde es ganz totgesagt. Heute wird neu und komplexer erzählt, dafür gibt es auf der anderen Seite eine Hinwendung zum guten, alten "Slow-TV" des Regionalfernsehens.
"In diesem medialen Multi-Optionsraum des everything, everywhere, anytime erscheint es dennoch sinnvoll, sich ausgeruht und ohne Beschleunigungsgejammer mit einzelnen Werken und singulären publizistischen Leistungen auseinander zu setzen", schreibt Herausgeber Lutz Hachmeister in seinem Editorial. "Dies hat, bei allem Respekt vor dem kommunikations- und medientheoretischen Überbau, das Jahrbuch Fernsehen seit 25 Jahren versucht – mit der spezifischen Mischung aus Essays, Kritiken und Marktüberblick, von den gängigen Abstrakta einer auch nicht überGebühr ernst zu nehmenden Medienwissenschaft deutlich entfernt."
Als eines der wenigen Foren für eine unabhängige Medienkritik in Deutschland bündelt das Jahrbuch Analysen, Kritiken und Hintergrundinformationen, ergänzt um wesentliche Service-Informationen für die Fernsehbranche. Die Herausgeber – das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, die Medienkorrespondenz (Katholisches Medienhaus) und das Film Festival Cologne – stehen für die journalistische Qualität und medienpolitische Unabhängigkeit der Publikation.