Berlin (epd). Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat an die Opfer von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Der Gedenktag für die Opfer (20. Juni) sei eine Chance, sich historischer Zusammenhänge bewusst zu werden und Prinzipien für die Bewältigung aktueller Herausforderungen zu formulieren, sagte Lammert am Montag in Berlin. "Wir haben das Thema Vertreibung nicht hinter uns gelassen." Vielmehr müsse sich die Gesellschaft heutiger moralischer wie rechtlicher Verpflichtungen gegenüber Vertriebenen vergewissern. Der deutsche Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung findet zeitgleich mit dem internationalen Weltflüchtlingstag am 20. Juni statt.
15 Millionen Vertriebene aus dem Osten
Lammert erinnerte an die 15 Millionen Vertriebenen, die zwischen 1945 und 1950 nach Deutschland kamen - bei weitem mehr als in den folgenden 65 Jahren. Diese Tatsache sei jedoch kaum im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert. So sei wenig bekannt, dass damals knapp 50 Prozent der Vertriebenen in Lagern und gut 34 Prozent in Notwohnungen untergebracht worden seien. Die Vorstellung von einer Willkommenskultur habe es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, sagte Lammert. Erfahrungsberichte aus der Nachkriegszeit zeugten vielmehr davon, dass das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Vertriebenen alles andere als reibungslos verlaufen sei.
Auch heute stünden Deutschland und vor allem die EU vor der Aufgabe, Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen. Mehr als 65 Millionen Menschen hätten ihre Heimat verlassen müssen, weil sie der falschen Religion angehörten, falsche Überzeugungen hätten oder dem Machtstreben von Regimen im Wege stünden. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die alle ausnahmslos die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hätten, rief der Bundestagspräsident eindringlich auf, den sich daraus ergebenden rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Es sei ihnen nicht immer anzumerken, dass sie begriffen hätten, sagte Lammert.
Integration heute bewältigen
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) erinnerte daran, dass durch die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg etwa jeder fünfte Deutsche Vorfahren aus Pommern, Ostpreußen oder Schlesien habe. Für die aktuellen Herausforderung der Integration Tausender Flüchtlinge rief der CDU-Politiker zu gegenseitigem Respekt auf. Ohne wechselseitige Anerkennung der Religion und Mentalität werde Integration nicht gelingen, sagte der Minister.
Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, mahnte einen angemessenen Umgang mit Gewalterfahrungen von Vertriebenen und Flüchtlingen an. Zuwendung, Mitgefühl und Solidarität seien damals wie heute geboten gewesen. Es sei eine Illusion und eine Ausflucht, dem Sprichwort zu glauben, dass die Zeit alle Wunden heile. Heilung brauche Zeit und Aufmerksamkeit für die Nöte der Betroffenen, sagte Zollitsch. Der Umgang mit Flucht und Vertreibung sei eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, sie dürfe nie nur Aufgabe der Vertriebenen sein.