Konzepte, die sich über Jahrzehnte in einer eher gleichförmigen Gesellschaft entwickelt hätten, wie etwa das duale System zur Berufsausbildung oder die Ausrichtung der Hochschulen auf junge Menschen, müssten auf den Prüfstand, sagte Oltmer in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie seien auf Normalbiografien ausgerichtet, die schon auf viele Einheimische nicht mehr zuträfen.
Umso mehr sei es jetzt an der Zeit, sich auf Menschen einzustellen, deren Zertifikate und Zeugnisse auf der Flucht verloren gegangen seien oder die sich in ihren Heimatländern auf ganz anderen Wegen ihr Können erworben hätten, betonte der Historiker am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung. Jemand, der 20 Jahre in Syrien als Bäcker gearbeitet habe, könne seine Fähigkeiten etwa in einem Praktikum unter Beweis stellen. Ein berufsspezifisches Vokabular könnte er nach wenigen Wochen Arbeit parat haben. Deshalb sei es Unsinn, wenn er verpflichtet würde, zunächst einen Integrationskurs zu absolvieren, zumal davon noch immer viel zu wenige angeboten würden.
Zunehmend verschiedene Lebensentwürfe
Fähigkeiten und Berufschancen könnten viel besser geklärt werden, wenn Behörden, Jobcenter und Betriebe die Zuwanderer intensiv beobachteten und individuell berieten. "Es muss viel stärker der Weg eines jeden Einzelnen beachtet werden. Wir sollten weniger in Kategorien denken", forderte der Professor für Neueste Geschichte. "Unser Bildungs- und Ausbildungssystem ist eine Integrationsbarriere, weil Migranten aus vielfältigen anderen Systemen kommen."
Es sollte zudem die Möglichkeit geben, eine Berufsausbildung auf bis zu fünf Jahre zu strecken und sie mit Sprachlernangeboten zu koppeln. Universitäten könnten Aufbau-Module und Quereinstiege auch für Ältere anbieten. Oltmer plädierte zudem dafür, die Integrationskurse zu überprüfen und anzupassen: "Das Konzept wurde 2005 entwickelt. Da muss dringend an Stellschrauben gedreht werden." Zudem müssten die Lehrkräfte besser qualifiziert und bezahlt werden.
Flexiblere Bildungskonzepte kämen auch Deutschen zugute, erläuterte der Experte. Aufgrund zunehmend verschiedenartiger Lebensentwürfe sei auch für sie das deutsche Bildungssystem oft zu starr. Immer mehr Frauen und Männer seien etwa darauf angewiesen, nach der Familienphase Wiedereinstiegshilfen in den Beruf zu erhalten. Zudem mache der fortwährende technologische Wandel ein lebenslanges Lernen und somit ein umfangreicheres Weiter- und Fortbildungsangebot notwendig.