Frankfurt a.M. (epd)"Dada" wird geboren, kurz bevor das blutige Gemetzel auf den Schlachtfeldern von Verdun beginnt. Am Abend des 5. Februar 1916 lädt das Literatenpaar Hugo Ball und Emmy Hennings zu einer ersten Soiree ihres "Cabaret Voltaire" in eine Künstlerkneipe in der Züricher Altstadt. Vor dem Krieg sind sie in die neutrale Schweiz geflohen. Gemeinsam mit Freunden zitieren sie fortan in den Abenden im "Cabaret Voltaire" Gedichte, die aus einem wilden Wort-, Buchstaben- und Silbenmix bestehen. Es wird gesungen, getrommelt und in seltsamen Kostümen getanzt. Das Publikum in dem überfüllten Lokal ist perplex: So etwas hat man noch nicht erlebt, das ist völlig "dada".
Zerstörung der etablierten Kunst
"Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen", erinnert sich der Literat und Kulturkritiker Ball (1886-1927) aus der Pfalz. Nichts weniger als die Zerstörung der etablierten Kunst und der Gesellschaftsordnung plant die Züricher Gruppe junger Avantgardisten mit ihrer neuen Kunst- und Literaturrichtung. Viele von ihnen sind aus verschiedenen europäischen Ländern in die Schweiz emigriert, um dem Militärdienst zu entgehen.
Die Welt steht in Flammen. Gegen den "Wahnsinn der Zeit" könne nur die Rückkehr zu "Dada" helfen, zum kindlich-primitiven Ursprung des Seins, predigt Ball. Als Mittel gegen Kriegstreiberei, zerrüttete gesellschaftliche Normen und etablierte Kunst setzten die Dadaisten zum Entsetzen vieler Zeitgenossen Lautgedichte, Krachmusik und skurrile Performances ein. Bis heute beeinflusst Dada die moderne Kunst und Literatur - und ist durch sein provokantes Potenzial noch immer anstößig.
Um Ball, den Sohn eines Lederhändlers aus der Schuhfabrik-Stadt Pirmasens, und seine spätere Frau Emmy Hennings (1885-1948) haben sich junge Künstler wie Hans Arp, Richard Huelsenbeck und Tristan Tzara geschart. Sie schaffen ab 1916 im "Kampf gegen alles" die neue, anarchische Anti-Kunst. Der Name "Dada" ist bewusst mehrdeutig, er steht unter anderem auf Französisch für "Steckenpferd". Und oft klingen ebenso die ersten Brabbelworte eines Kindes.
Reflex der absurden Realität
Doch nur vordergründig ist der aus dem Expressionismus und Kubismus hervorgegangene Dadaismus ein "Signum alberner Naivität", wie Ball in seinem Tagebuch "Die Flucht aus der Zeit" (1927) schreibt. Vokalreihungen - "Verse ohne Worte" - wie "Gadji Beri Bimba" oder das Lautgedicht "Karawane" (1917) sollen ein Reflex der absurden Realität sein. Bis heute sind sie in Schulbüchern zu finden.
Durch "absolute Vereinfachung" wollen die Dadaisten dem Publikum die Augen öffnen. Dem Krieg sowie einer "verfaulten Gesellschaft" und ihrer Kunst kann nach ihrer Überzeugung nur der sinnvolle Unsinn entgegengesetzt werden. Den Aufklärer Immanuel Kant erklären die Dada-Anhänger "zu ihrem Erzfeind, auf den alles zurückgeht", wie Ball wettert. Die Unvernunft und das Magische müssten wieder ins Bewusstsein gebracht werden, propagiert er. Bekleidet mit einem Umhang und einem hohen Schamanenhut gibt Ball den "Priester Dadas".
Doch schon bald ist für ihn "das Narrenspiel aus dem Nichts" erschöpft. Während seine Freunde versuchen, die neue Kunstform zu etablieren, verabschiedet sich Ball von Dada. Das erste "Dada-Manifest" im Juli 1916 ist für ihn schon ein Abgesang. Dort heißt es: "Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. (...). Dada ist die Weltseele. Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt."
Kathartische Funktion
Alle "Isme" - auch ein Dadaismus - seien "schlimmste Bourgeoisie", kritisiert Ball, der mittlerweile im schweizerischen Tessin lebt. Er wendet sich einem streng orthodoxen Katholizismus und dem Kommunismus zu.
Doch mit Balls Abwendung ist der Dadaismus nicht tot - weitere Zentren entstehen ab 1917 mit Galerien und Zeitschriften in Berlin, München, Paris und auch in New York. Erst Mitte der 1920er Jahre hat sich die Kunstbewegung überlebt und Dada geht in andere Formen auf - dem Surrealismus, der modernen Performance und der Musik. Besonders Vertreter des deutschsprachigen Kabaretts wie Helge Schneider ("Katzeklo") blödeln im Geiste Dadas weiter.
"Das Thema Dada ist noch immer en vogue", sagt Eckhard Faul, der Geschäftsführer der Hugo-Ball-Gesellschaft in Pirmasens. Für die an der Welt leidenden Künstler habe Dada eine Seelen reinigende, kathartische Funktion gehabt. "Es war vielleicht die erste Kunst, die sich selbst infrage stellte", bilanziert Faul, was wohl von Dada bleibt.