Mütze auf, Handschuhe an – mit Schaufel und Rechen steht Ute Greiling an einem beinahe sonnigen, kalten Herbstmorgen auf dem Grabfeld. Sie fegt das gelbe Laub weg, bringt leere Grablichter zum Müll, zupft an den halbverwelkten Sonnenblumen auf Hildes Grab. Hilde ist als erste gegangen, unerwartet, sie war eine der vier Frauen, die im Verein Safia das Gemeinschaftsgrab geplant hatten. Im Leben sind sie Freundinnen und auch im Tod wollen sie beieinander bleiben, hier auf dem alten Georgen-Parochial-Friedhof in Berlin-Prenzlauer Berg. Auf ihrem Areal gibt es 80 Gräber für Särge oder Urnen, je eines ist schon belegt.
Gemeinschaftsgräber sind keine ganz neue Idee, aber sie erleben seit den 80er/90er Jahren einen Aufschwung, erklärt Reiner Sörries, Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel. "Sie helfen über den Tod hinaus, die Identität der Verstorbenen zu bewahren, die sich zu Lebzeiten über eine bestimmte Gruppe definieren." Bei Safia sind es ältere lesbische Frauen, auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg schwule Männer, auf dem Friedhof Lindenstraße Menschen, die im Diakonie-Hospiz Wannsee verstorben sind, und im Waldfriedhof Zehlendorf Mitglieder und Freunde des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg. Es gibt noch viel mehr Beispiele, natürlich nicht nur in Berlin – diese vier sollen hier von der Idee der Gemeinschaftsgräber erzählen.
Schön sieht es aus mit dem neu gepflanzten Efeu und dem bunten Herbstlaub dazwischen, finden die vier Männer, als sie Ende Oktober ihr noch leeres Grab besuchen. Die Blätter harmonieren gut mit dem blassgelben Anstrich ihrer Grabwand. Drei weiße Tafeln mit dem Nachnamen "Lietzmann" hängen daran, und das wird auch so bleiben, wenn der erste aus ihrem Freundeskreis hier "einfährt", wie sie formulieren. Denn die Grabwand, die früher einer reichen Händlerfamilie gehörte, steht unter Denkmalschutz. Rainer Schilling hat sie bei einem seiner vielen Spaziergänge auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof entdeckt und wusste: Hier will ich begraben werden. Aber nicht allein. Er lud Freunde zum Essen ein und fragte: "Habt ihr dazu nicht Lust?" Es kam eine Zusage nach der anderen. Bis jetzt sind sie neun, der älteste 73, der jüngste 48 Jahre alt, die hier ihre letzte Ruhe finden werden. Damit alles reibungslos läuft, haben sie zwei Vereine gegründet: einen für die Pflege des Denkmals und einen, um das Geld für die Bestattungen einzusammeln. Es sind noch Plätze frei für drei weitere "Männer liebende Männer", so ihre Selbstdefinition.
"Ach, eigentlich ist es schön, sie sind noch alle da"
Wer einen Platz in einem Gemeinschaftsgrab reserviert, tut das, weil er im Tod nicht alleine sein will. "Je mehr die Familie gesellschaftlich an Bedeutung verliert, umso mehr tritt an deren Stelle die Wahlfamilie", erklärt Sörries, "und insofern sind diese gruppenspezifischen Gemeinschaftsgräber die neuen Familiengräber." Das stimmt auf jeden Fall für Michael Bochow, einen der Männer in Schöneberg: "Ich war mit meiner Herkunftsfamilie zwar nie zerstritten, aber diese schwule Wahlfamilie – wo ich auch schon so lange in Berlin wohne – ist mir da wichtiger." Egmont Fassbinder nickt: "Ich finde es schön, hierhin zu gehen, weil hier auch viele meiner Freunde liegen."
Angelika Behm schaut die kleinen Holzkreuze an, auf denen – noch provisorisch – die Namen der Verstorbenen stehen. "Für uns ist es mit dem Tod nicht zu Ende, sondern wir wollen den Angehörigen und auch den Verstorbenen das Angebot machen, sie noch ein Stück weiter zu begleiten", sagt die Leiterin des Diakonie-Hospizes Wannsee. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin hatte die Idee zum Gemeinschaftsgrab, als sie mit einem Gast auf dem Friedhof spazieren ging. "Diese Dame war völlig alleinstehend und hat zu der Ehrenamtlichen gesagt: Es wäre toll, wenn ich hier beerdigt werden würde und ihr würdet euch um die Grabstelle kümmern", erzählt Angelika Behm. 2008 entstand das erste Grab, 2014 das zweite, mittlerweile ist rund die Hälfte der insgesamt 93 Urnengrabstellen belegt. Am älteren Grab sind die Namen an einer Steinstele festgehalten. "Ach, eigentlich ist es schön, sie sind noch alle da, sie sind hier", freut sich Angelika Behm.
"Ich glaube, dass es für Menschen ganz wichtig ist, für sich selbst zu wissen: Wo werde ich einmal bestattet?", hat die Hospizleiterin beobachtet. Das eigene Sterben zu bedenken, mag für viele Menschen beängstigend sein. Für Rainer Schilling von der St.-Matthäus-Grabgemeinschaft ist es das längst nicht mehr, denn viele aus seiner Community starben an Aids. "Deswegen waren wir ja auch öfter auf dem Friedhof und deswegen blieb es ja nie aus, sich darüber Gedanken zu machen." Die Frauen von Safia singen und tanzen auch manchmal auf ihrem Grabfeld. "Wir wollen den Tod ins Leben holen, also die Berührungsangst vor dem Sterben oder den Gedanken, dass wir vergänglich sind, erleichtern", erklärt Ute Greiling. Je schöner die Atmosphäre, desto angenehmer das Nachdenken. Nachdem das Laub weggefegt ist, sieht man den Weg in Form einer Triskele – ein Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens, erklärt die Sprecherin des Projektes, Usah Zachau. Eine S-förmige Holzbank schlingt sich halb um einen Ahornbaum: ein Platz zum Nachdenken, wo man sich "damit auseinandersetzen kann, zurückgeblieben zu sein", sagt Ute Greiling.
Auch auf dem Bestattungshain des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg steht eine halbrunde Bank aus Eichenholz. Von dort aus schauen Besucher auf eine Stele aus demselben grob behauenen Holz mit dem Logo des Verbandes. Dahinter 6000 Quadratmeter Gras mit rund 2000 Urnengrabstellen. Die begehrtesten sind die unter den Birken, sagt Kulturreferentin Regina Malskies. Als in Deutschland die ersten Friedwälder entstanden, fanden die Humanisten: "Das passt zu uns!" Schließlich hat der Berliner Verband seine Wurzeln im "Verein für Feuerbestatttung". Unter der Wiese sind bisher 34 Mitglieder und Freunde beerdigt. Zehn davon haben zu Lebzeiten bestimmt, dass ein kleiner grüngelber Namensstein am Rand des Feldes an sie erinnern soll, andere bleiben anonym. Selbstbestimmung ist für die Humanisten wichtig, auch wenn es um das Sterben geht. "Viele kommen auch mit ihren Angehörigen und sagen: Guck mal, hier wäre es, würde dir das gefallen?", erzählt Regina Malskies. "Ich sag immer: Bitte mit den Angehörigen sprechen, denn die müssen damit leben können."
"Eigentlich ist es ein Platz für die Hinterbliebenen", sinniert Ute Greiling auf dem Grabfeld von Safia in Prenzlauer Berg. "Uns ist auch wichtig, dass wir unsere Freundinnen hier besuchen können, die schon verstorben sind, aber auch, dass wir als Gemeinschaft von Lesben in Erinnerung bleiben." Hospizleiterin Angelika Behm beobachtet, dass immer wieder Blumen an bestimmten Stellen auf den beiden Gräbern auf dem Friedhof Lindenstraße liegen – Hinterbliebene wissen offenbar genau, an welcher Stelle "ihre" Urne sich befindet. "Sie finden es schön, dass es einen Ort gibt zu dem sie gehen können", sagt Behm.
Als Hilde starb, war das "schon ein großer Einschnitt, aber auch ein tolles Fest", sagt Safia-Sprecherin Usah Zachau. "Es war eine sehr schöne Beerdigung, wir haben hier am Grab den Sarg bemalt." Ob ihre eigene Beerdigung auch so sein wird, traurig und lustig zugleich? Usah Zachau war die erste, die hier ein Grab für sich reserviert hat. "Das ist eigentlich meine engste Familie, Wahlfamilie", sagt sie. "Ich wüsste gar keinen anderen Ort, wo ich hin wollte."