Der Grenzgänger

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Paul Tillich war bis zu seinem Tode Theologieprofessor an der Universität Chicago.
Der Grenzgänger
Vor 50 Jahren starb der Religionsphilosoph und
Theologe Paul Tillich
In den USA war der evangelische Theologe Paul Tillich so berühmt, dass man eine Nachrichtensendung unterbrach, um seinen Tod vor 50 Jahren zu melden. Der deutsche Gelehrte gehört zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts.
22.10.2015
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Stephan Cezanne (epd)

Frankfurt a.M. (epd)Paul Tillich (1886-1965) hat mit dem traditionellen Bild des protestantischen Gelehrten nichts gemein. Der liberale und elegante Theologieprofessor verkehrte während der Weimarer Republik in der Welt der Künstler und der Berliner Bohème. Er war Vordenker der "Religiösen Sozialisten", die für eine sozialistische Gesellschaftsordnung eintraten, und warnte früh vor der Barbarei der Nazis. Damit gehörte Tillich auch zur den ersten deutschen Hochschullehrern, die 1933 die Universitäten verlassen mussten und ins Exil gingen. Er starb vor 50 Jahren am 22. Oktober 1965 im Alter von 79 Jahren in Chicago.

Lieblingsthema Grenze

Im Exil wurde Tillich zum bedeutendsten Theologen der USA. In New York oder Harvard hingen die Studenten an seinen Lippen, wenn er in seinem berühmten "Tillich-Englisch" Antworten auf die großen Sinnfragen gab. Sein Lebensthema war die Grenze. Der Gelehrte mit dem freundlichen Gesicht und der großen Brille vermittelte zwischen den USA und Europa, zwischen Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft, Katholiken und Protestanten, Religion und Kunst.

Am 20. August 1886 wurde Paul Tillich als Sohn eines Pfarrers in Starzeddel geboren, einem kleinen Ort im heutigen Polen. Die erschütternden Erfahrungen als Feldprediger im Ersten Weltkrieg veranlassten ihn zu einer völligen Neuorientierung seiner Weltanschauung. Der idealistische Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts fand für ihn auf den Schlachtfeldern von Verdun ein Ende. Wahrer Glaube war für Tillich der "Mut zum Sein" - dies ist auch der Titel eines seiner bekanntesten Werke. Es geht darin vor allem um den Mut, einer allgemein verbreiteten Verzweiflung standzuhalten.

Verlust der Tiefe

Die Menschen in der Moderne, war sich Tillich sicher, werden noch immer von den Fragen bewegt, "die sie schon vor zweitausend und mehr Jahren bewegt haben: die Frage nach der Schuld, die Frage nach der Liebe, nach der Gerechtigkeit in der Welt, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod". Der Theologe habe die westliche Welt vor dem Verlust der Dimension der Tiefe gewarnt, schreibt der katholische Tillich-Experte Eberhard Rolinck.

Dem traditionellen Gottesbild mit der Vorstellung von einem höchsten Wesen erteilte Tillich eine Absage. Gott erscheine den Menschen oft erst dann, schrieb er, wenn Gott bereits "in der Angst des Zweifels untergegangen ist".

Der Theologe lehrte zwischen 1933 bis 1955 zunächst in New York, bis 1962 in Harvard und danach bis zu seinem Tod in Chicago. In den USA wurde er bald zum führenden theologischen Denker - trotz seiner bis zuletzt anhaltenden Schwierigkeiten mit der Sprache. Ein Zeitgenosse erinnerte sich: "Englisch war für ihn leicht zu lesen, schwer zu verstehen und außerordentlich schwer zu sprechen; das Sprechen war für ihn eine einzige Tortur."

Abseits der Kirchen

Kirche verstand Tillich vor allem als spirituelle Gemeinschaft: "Eine Kirche, die nichts anderes ist als eine wohlwollende, sozial nützliche Gruppe, sollte durch andere Gruppen ersetzt werden, die nicht den Anspruch haben, Kirche zu sein. Eine solche Kirche hat keine Existenzberechtigung."

Als Religionsphilosoph deutete Tillich - der sich Zeit seines Lebens klar zum Luthertum zählte - das Christentum nach den Krisen des 20. Jahrhunderts neu. Zur Frage nach dem historischen Hintergrund der Person Jesus Christus - eines der wichtigsten Themen in der Theologie seit dem 19. Jahrhundert - meinte er lakonisch: "Wenn er es nicht war, dann war es eben ein anderer", erinnert sich der Theologe und Journalist Heinz Zahrnt (1915-2003) über ein Gespräch mit Tillich in Hamburg.

Religiöse Inhalte müssten den Menschen "unmittelbar berühren", damit sie verstanden würden, das war Tillich wichtig. Die christliche Botschaft sei daher jeweils neu für die jeweilige Zeit zu übersetzen. Sie ist nach seiner Deutung das, "was uns unbedingt angeht". Damit erreichte der Theologe auch Menschen abseits der Kirchen.

Cocktail vor dem Essen

Einen Einblick in das Leben von Paul Tillich gibt seine zweite Ehefrau, die gar nicht fromme oder prüde Pfarrerstochter Hannah Tillich, in ihren Lebenserinnerungen. Mit ihrem "Paulus" eilt sie von Marburg nach Dresden, von New York nach Harvard. Hannah Tillich beschreibt ihren Alltag in den USA: "Wir nahmen immer einen Cocktail vor dem Essen. Mittags bevorzugte Paulus einen süßen Madeira oder Marsala oder einen Sherry." Später nippten sie an einem Cinzano und schauten Fernsehen. Hannah Tillich starb 1988 in Long Island.

Im "Paul Tillich Park" in den USA erinnert heute eine Büste an den deutschen Denker. Am Pfingsttag 1966 übergab man hier bei Sonnenaufgang seine Asche der Erde von New Harmony im Süden Indianas. Tillichs Lebenswerk hat bis heute in Deutschland noch nicht den rechten Durchbruch erfahren, meinen viele Theologen. Eine Würdigung seiner Leistung für eine Erneuerung der protestantischen Theologie stehe noch aus.