Frankfurt a.M. (epd)Statt zu warten, bis das Immunsystem bereits geschwächt ist, sollen HIV-Positive schnellstmöglich Medikamente nehmen. Das fordern Forscher und Helfer. Denn neue Studien zeigen, dass das Übertragungsrisiko damit um mehr als 90 Prozent sinkt, und die Gefahr, Aids oder andere vom HI-Virus begünstigte Krankheiten auszubilden, deutlich sinkt. «Diese Erkenntnisse haben weltweite Auswirkungen auf den Umgang mit HIV», sagt der leitende Virologe der US-Gesundheitsbehörde NIH, Anthony S. Fauci. Erstmals gebe es den eindeutigen Beweis dafür.
Der wird unter anderem in der START-Studie erbracht, die größtenteils von der NIH finanziert wurde. Sie spricht klar für eine Einnahme sogenannter antiretroviraler Medikamente direkt nach der Diagnose. Denn das Risiko von Folgeerkrankungen bei einem späten Therapiebeginn, wenn also das Immunsystem schon deutlich angegriffen ist, liegt demnach mehr als doppelt so hoch. Knapp 4.700 Patienten weltweit nahmen während rund drei Jahren an der Studie teil.
Das Testen vorantreiben
Ausschlaggebend für eine Anpassung der weltweiten Therapieleitlinien ist eine entsprechende Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die will das Ziel «Behandlung für alle» bis Ende des Jahres in ihre Richtlinien aufnehmen. Das HI-Virus zerstört die menschlichen Abwehrzellen, die CD4-Zellen oder Helferzellen. Bisher empfiehlt die WHO die Medikamenteneinnahme, wenn die Zahl dieser Zellen im Blut unter 350 pro Mikroliter gefallen ist. Einige Länder wie Deutschland setzen die Grenze bei 500. Eine Helferzellenzahl von mehr als 500 bis 600 gilt als normal.
Ein großes Problem ist aber, dass mehr als die Hälfte der HIV-Positiven laut dem Aids-Programm der UN, gar nicht wissen, dass sie das Virus in sich tragen. Demnach sind weltweit etwa 37 Millionen Menschen infiziert. Davon erhalten 41 Prozent antiretrovirale Medikamente. Das heißt, die meisten HIV-Positiven, die ihren Status kennen, sind bereits in Therapie. «Es ist also entscheidend, dass wir das Testen vorantreiben», sagt Michael Hollingdale von UNAIDS. Ziel sei es, dass im Jahr 2020 90 Prozent der Infizierten ihren Status kennten.
Praktiker halten die Medikamenteneinnahme direkt nach Diagnose auch deshalb für sinnvoll, weil die Patienten so in Kontakt mit dem Gesundheitssystem bleiben, erläutert Marcela Rojo vom Globalen Aids-Fonds, der öffentliche Aids-Programme in Entwicklungsländern finanziert. Auch «Ärzte ohne Grenzen» sind dafür: «Wenn wir die Mehrheit der HIV-Positiven in einem bestimmten Gebiet erreichen und das Virus durch schnelle Behandlung unterdrücken können, kann die Epidemie deutlich eingedämmt werden», erläutert die HIV-Beraterin Sharonann Lynch.
Die Botschaft verändern
Gleichzeitig gibt es Lynch zufolge Regionen, in denen nur ein Bruchteil der HIV-Infizierten behandelt wird, so wie lediglich 17 Prozent im Kongo. «Deshalb wird das Ausweiten der Versorgung mit Medikamenten in solchen Gebieten sehr viel Aufmerksamkeit, Ressourcen und politischen Willen benötigen.» Um allen HIV-Positiven eine Therapie zu ermöglichen, braucht es laut UNAIDS zusätzlich acht bis zwölf Milliarden US-Dollar.
Doch Lynch geht es dabei nicht nur ums Geld. «Wir müssen die Botschaft verändern und davon wegkommen, dass die Behandlung nur für kranke Menschen ist.» Mehr Menschen würden sich testen lassen, wenn ihnen klarer wäre, dass die Medikamente vor Krankheiten und Ansteckung schützen, sind sich die Helfer sicher. Derzeit kommen die meisten HIV-Positiven erst sehr spät in Kontakt mit der Gesundheitsversorgung.
Medikamente unerschwinglich
Das gilt auch für Deutschland. Etwa 14.000 HIV-Infizierte leben hier ohne Diagnose, weil sie sich nicht testen lassen, wie der Medizinreferent der Deutschen Aidshilfe, Armin Schafberger, erläutert. «Dabei spielt die Stigmatisierung eine Rolle, aber auch die Vorstellung, dass man bald sterben muss.» Jetzt müsse man nicht mehr warten, bis das Immunsystem so oder so angeschlagen sei.
Medizinisch ist eine Medikation über mehrere Jahrzehnte laut Schafberger möglich, weil es inzwischen vier Therapielinien gibt, die verwendet werden könne, wenn Patienten ein Medikament nicht vertragen oder Resistenzen bilden. Allerdings geht das bislang nur in den Industriestaaten. In Entwicklungsländern sind die Medikamente der dritten und vierten Generation für die meisten unerschwinglich. Dies sei jedoch nur eine Frage der Zeit, ist sich Schafberger sicher. «Wenn man jetzt mit der Therapie für alle beginnt, laufen die Patente für die Nachfolgetherapien aus, bis man sie braucht.»