Je mehr die religiöse Vielfalt in Deutschland wachse, desto größer werde auch die Distanz von Kirche und Staat werden, sagte Pollack der "Süddeutschen Zeitung" (Freitagsausgabe). Das Staat-Kirche-Verhältnis stehe "vor ganz großen Herausforderungen", sagte er. Deshalb sollten die Kirchen "erkennen, was an diesem Verhältnis erhaltenswert ist und wo Ansprüche unzeitgemäß geworden sind".
Der wachsende Mitgliederverlust der Kirchen führt nach Ansicht des evangelischen Theologen aber nur teilweise dazu, dass die verbleibenden Mitglieder besonders entschiedene Christen seien. Insgesamt "werden wir wohl weiterhin das wohlwollend-distanzierte Christentum behalten, das wir jetzt haben", sagte der Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Anders sei das bei den Muslimen in Deutschland: Diese hätten eine wesentlich stärkere Bindung an ihre Religion, auch Jugendliche. Die "spannende Frage " sei nun, so Pollack, ob dieses Selbstbewusstsein der Muslime bei den Christen einen "Selbstbesinnungsprozess auslöst". Er selbst glaube aber nicht, dass das passieren werde, die Bindung vieler Christen an ihre Religion sei "lau und distanziert", sagte der Sprecher des Exzellenzclusters Religion und Politik an der Universität Münster. Zwar schätzten Befragte das Christentum höher, je kritischer sie den Islam sähen. Doch das habe kaum "praktische Konsequenzen".
Vor drei Wochen hatten die evangelische und die katholische Kirche ihre Mitgliederverluste bekanntgegeben. Diese lagen 2014 höher als in den Jahren zuvor. Die katholische Kirche verlor 230.000 Gläubige, knapp 218.000 davon waren ausgetreten. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sprach von 410.000 weniger Mitgliedern, zu den Austrittszahlen äußerte sie sich nicht. Damit zählen in Deutschland noch rund 22,5 Millionen Menschen zu einer der EKD-Kirchen und fast 24 Millionen zur katholischen Kirche.
Bei den Austritten sei die Reform der Abgeltungssteuer lediglich der Anlass gewesen, sagte Pollack. Dahinter stehe eine generelle Austrittsneigung von zehn bis 20 Prozent der Kirchenmitglieder, die mit "Glaube, Kirche und Religion nur noch wenig anfangen" könnten. Das sei ein "schleichender Prozess". Ein zentrales Motiv für den Kirchenaustritt sei, dass andere Lebensbereiche wie Beruf, Familie und Freizeit den Menschen wichtiger seien als die Kirche.