Dass der Atombombenabwurf über Nagasaki kaum noch kriegsentscheidend war, weil Japan im Grunde längst besiegt war, ist bekannt. Nach Ansicht der Experten wäre sogar die Bombe auf Hiroshima nicht nötig gewesen, denn zur Kapitulation habe die japanische Regierung etwas ganz anderes bewogen: Bis zuletzt hatte man darauf vertraut, Josef Stalin werde als Vermittler zwischen Japan und den USA fungieren. Als dann auch die Sowjetunion Japan den Krieg erklärte, war selbiger verloren. Im Grunde hätte es genügt, wenn die Amerikaner die enorme Zerstörungskraft ihres neuen Bombentyps über unbewohntem Gelände demonstriert hätten. Für die Bombardierung Nagasakis haben die Historiker eine ebenso einleuchtende wie zynische Erklärung: Die erste Bombe basierte auf Uran, die zweite auf einer Plutoniumtechnologie. Beide waren zwar schon ausprobiert worden, aber natürlich in ungleich kleinerem Rahmen. Das Bombardement war nichts anderes als ein mörderischer Waffentest.
Mit 45 Minuten ein zu kurzer Film
Scherer beschränkt sich allerdings nicht auf Interviews mit Wissenschaftlern, im Gegenteil; der Schwerpunkt seines mit 45 Minuten eigentlich viel zu kurzen Films liegt auf den Gesprächen mit Menschen, die aus erster Hand schildern, was für ein Verbrechen die beiden Bombenabwürfe waren. Sie haben die Bombardierung als Kinder erlebt. Ihre Beschreibungen sind sachlich, fast nüchtern; umso erschütternder sind die Fotos, mit denen Scherer ihre Schilderungen illustriert. Auf einigen ist bloß ein Umriss auf der Straße zu sehen: Die Menschen sind verdampft; nur ein Schatten ist übrig geblieben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Natürlich bettet Scherer die Ereignisse in den historischen Zusammenhang. Er beschreibt die Kriegslage im Pazifik, die begründete Furcht der Amerikaner vor Verlusten, wenn sie weiterhin Bodentruppen einsetzen würden, und die unrühmliche Rolle Stalins, der die Japaner in dem Glauben ließ, die Sowjetunion werde nicht in den Krieg eingreifen. Außerdem kann der Autor belegen, dass selbst amerikanische Generäle die beiden Bombardierungen militärisch für unnötig und moralisch für verwerflich hielten. Aber wichtig ist sein Film, weil er die Geschichte aus Sicht der Opfer erzählt, die von ihren Landsleuten wegen ihrer Strahlenkrankheit ausgestoßen und von amerikanischen Wissenschaftlern wie Versuchskaninchen behandelt wurden. Scherer stellt unter anderem einen Chor vor, der nur aus Überlebenden besteht. "Das Leben, die Liebe: alles verglüht", heißt es in dem Lied, das sie singen. Ein Schicksal, das auch Deutschland geblüht hätte; im Rückblick war es reines Glück, dass die Entwicklung der Atombombe erst nach der deutschen Kapitulation abgeschlossen worden ist.
Weitere Dokumentationen zum Jahrestag der Bombardierungen Hiroshimas und Nagasakis zeigen unter anderem Arte morgen um 20.15 Uhr ("Countdown in ein neues Zeitalter: Hiroshima") sowie am Mittwoch ZDF Kultur ab 20.15 Uhr ("Lise Meitner – Die Mutter der Atombombe" und "Hiroshima, Nagasaki – Atombombenopfer sagen aus") und Phoenix ("Hiroshima", 22.15 Uhr).