"Es geht nicht darum, das Alte Testament aus der Bibel hinauszuwerfen", machte Notger Slenczka gleich zu Beginn deutlich. "Es geht nicht um die Frage, ob das Alte Testament einen Platz in der Bibel hat, sondern welchen Platz es im Leben der Kirche heute einnehmen soll." Der Theologieprofessor sprach sich auf der Podiumsdiskussion, die die evangelische Melanchthon-Akademie zusammen mit der katholischen Karl-Rahner Akademie gestern veranstaltete, erneut dafür aus, die Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum herabzustufen.
In der evangelischen Kirche tobt seit Monaten ein Streit um Slenczkas Thesen zum ersten Teil der Bibel. Slenckas Kollegen an der Berliner Universität hatten teils scharfe Kritik daran geäußert, dass die Bedeutung des Alten Testaments geschmälert werden solle, auch mehrere evangelische Bischöfe hatten sich von Slenczkas Überlegungen distanziert. Gestern wurden seine Thesen zum ersten Mal im ökumenischen Rahmen diskutiert. Der Saal in der Karl Rahner Akademie war mit etwa 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gerammelt voll.
Slenczka sprach sich in seinem Statement dafür aus, die Texte des Alten Testaments als "Zeugnis und Ausdruck vorchristlicher Gotteserfahrung" zu verstehen. "Wir haben alle, auch bevor wir mit dem Evangelium von Jesus Christus zu tun haben, mit Gott zu tun", erklärte der Theologe gestern auf der Veranstaltung. "Wir erfahren ihn in unserem positiven oder negativen Lebensgeschick, wir erfahren ihn, wenn wir nach dem Sinn fragen, der unser Leben bestimmt, und erfahren ihn, wenn wir ernsthaft vor der Frage stehen, wer wir sind und was wir wert sind." Viele Texte des Alten Testaments seien dafür geeignet, solche Erfahrungen auszusprechen.
Radikale Neuinterpretation des Alten Testaments durch die ersten Christen?
Die Texte des Neuen Testaments setzten das Alte Testament voraus – das streite er gar nicht ab, so Slenczka. Die Texte sprächen vom Bund Gottes mit Israel. Aber die ersten Christen hätten eine radikale Neuinterpretation des Alten Testaments vorgenommen. Sie hätten von Anfang an das Alte Testament als Anrede an die Kirche Jesu Christi verstanden. Für sie sei klar gewesen: Dieser Gott des Alten Testaments ist der Vater Jesu Christi, dieser Gott ist Jesus Christus. Diese Einsicht in das Wesen Gottes hätten die Christen im Laufe der folgenden Jahrhunderte ausformuliert und auf die Formulierung der Trinität gebracht: Dass Gott dreifaltig einer sei – der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Nach Slenczka ist es vor allem die Re-Lektüre des Alten Testaments als Vorhersage des Christusgeschehens, mit der die Christen den Juden das Recht streitig machten, sich auf Gott zu beziehen. "Schon das vorchristliche Israel ist für Paulus die Kirche", erklärt der evangelische Theologe, und fügt erklärend hinzu: "Das ist nicht meine These, wohlgemerkt, sondern die These des Paulus!"
In den letzten 50 Jahren, nach dem Holocaust und der Einsicht, welche verheerenden Folgen eine solche Sicht auf Judentum und Christentum für den Umgang mit dem jüdischen Volk gehabt hat, habe man umgedacht und die christologische Lesart des Alten Testaments relativiert. Israel sei als Bundespartner nicht einfach durch die Kirche abgelöst worden. Der Bund Gottes mit seinem Volk ist ungekündigt, so lautet das christliche Bekenntnis heute. Das unterstützt Slenczka ausdrücklich, wie er sagt. Und sieht dann aber einen Widerspruch darin, das Alte Testament dennoch als kanonischen Text auch des Christentums beizubehalten. "Inwiefern", fragt Notger Slenczka, "ist die Bedeutung des Alten Testaments für die Kirche noch dieselbe?"
Aussagen zu Schöpfung und Anthropologie werden im NT nicht wiederholt
Jesus Christus ist Gott? "So sollte man nicht sagen", widerspricht der katholische Theologe Josef Wohlmuth. Wohlmuth lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 Dogmatik an der Universität Bonn. "Die Differenz zwischen Gott und Sohn ist wichtig, auch wenn wir sie vielleicht nicht leicht verstehen können."
Diese Differenz sei auch in den frühesten Glaubensbekenntnissen so formuliert. Für den emeritierten Dogmatiker und katholischen Pfarrer ist dies ein Hinweis auf das jüdische Erbe im Christentum.
Wohlmuth grenzt sich entschieden ab gegen die Thesen des evangelischen Kollegen aus Berlin und verweist auf kirchengeschichtliche Entscheidungen von großer Reichweite. "Nach katholischer Tradition gilt: Gott ist der Autor aller Texte, des Alten wie des Neuen Testaments."
Zwar habe in der katholischen Tradition viel Antijudaismus geherrscht, aber es sei nie die Frage aufgekommen, ob man das Alte Testament aus dem Kanon entfernen solle. "Kanonischer Rahmen bedeutet ja nicht: Du darfst mit diesen Texten nicht kritisch umgehen. Sondern es heißt, sich mit ihnen nach den exegetischen Regeln der Auslegung zu befassen."
Der evangelische Theologe Frank Crüsemann von der kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel widerspricht ebenfalls entschieden dem Vorschlag seines Kollegen Notger Slenczka, das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu streichen. "Das Alte Testament ist christlicherseits zu lehren und zu predigen", stellt Crüsemann in seinem Widerspruch heraus, "weil es die fundamentalen biblischen Aussagen zu Schöpfung und Anthropologie enthält, die im Neuen Testament vorausgesetzt, aber nicht wiederholt werden."
Jesus Christus sei nur durch das Alte und das Neue Testament zu verstehen, argumentiert der emeritierte Alttestamentler. Crüsemann beruft sich dabei auch auf Dietrich Bonhoeffer, der sich besonders seit seiner Inhaftierung durch die Nationalsozialisten intensiv mit der hebräischen Bibel beschäftigte. Bonhoeffer kommt zu dem Ergebnis: "Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m.E. kein Christ."
Der Gott, der aus der Knechtschaft befreit, in verwirrenden Texten
"Wir können nicht den Exodus einfach auf uns beziehen", entgegnet Notger Slenczka. Der Auszug aus Ägypten sei dem jüdischen Volk widerfahren, nicht den Christen. Frank Crüsemann widerspricht: "Der Bund Gottes mit Israel und dem Judentum gehört zum Glauben an Jesus Christus dazu". Das betont der Alttestamentler mit großer Entschiedenheit. Als das Christentum dies ausblendete, sich allein universal verstand und im Besitz einer Wahrheit glaubte, die für alle Menschen gilt, sei es unausweichlich antijüdisch und inhuman geworden.
Nicht nur vom Podium erhält Slenczka an diesem Abend Widerspruch, auch aus dem vollbesetzten Raum in der Karl-Rahner-Akademie kommen kritische Anmerkungen. "Ich begegne in diesen Texten doch einem Gott, der mich aus der Knechtschaft befreit", sagt ein älterer Herr, evangelischer Pfarrer im Ruhestand. Aber die Thesen des Wissenschaftlers stoßen auch auf Zustimmung. "Die Idee, die jüdischen Texte nicht zu vereinnahmen, finde ich sehr sympathisch", sagt eine Zuhörerin. Und eine Pfarrerin spricht von der Entlastung, die sie erleben würde, wenn dem Alten Testament ein abgeschwächter normativer Rang zukäme. "Viele Texte sind sehr irritierend. Trotz intensiver Auseinandersetzung tun sich viele Gemeindemitglieder sehr schwer mit vielen Stellen des Alten Testaments." Die gründliche Auseinandersetzung mit den Thesen Slenzckas sei nur zu begrüßen.
Slenczka selber antwortet auf die Nachfrage, wie er die Auseinandersetzung um seine Thesen erlebe, dass er Abende wie diese begrüße, sie seien fair und hilfreich. Aber das Gefühl, einen Alptraum zu erleben, werde er noch nicht ganz los. "Es ist dort ein Alptraum, wo mir Antijudaismus vorgeworfen wird, und dass ich eine Nazitheologie verträte." Aber die Diskussionskultur werde langsam besser.