Vor der libyschen Küste ertranken bei einem schweren Bootsunglück nach UN-Angaben offenbar mehr als 400 Flüchtlinge aus Afrika. Viele Opfer seien Frauen und Kinder, die sich wegen der Kälte im Inneren des Schiffs aufgehalten hätten, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) dem Evangelischen Pressedienst am Mittwoch in Genf mit.
Politiker, Kirchenrepräsentanten und hohe Vertreter der Vereinten Nationen reagierten mit Schock und Entsetzen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sagte: "Die Mittelmeer-Grenze ist heutzutage die tödlichste Grenze der Welt." Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, bekräftigte seine Forderung nach einer funktionierenden Seenotrettung. Italien hatte das Rettungsprogramm Mare Nostrum 2014 eingestellt. Das EU-Programm Triton konzentriert sich auf Überwachung und Patrouillen.
Auf dem verunglückten Schiff sollen sich den Angaben zufolge ingesamt 670 Menschen befunden haben, davon ein Drittel Frauen und Kinder. Offenbar kenterte das Schiff, weil Männer an Deck sich beim Auftauchen eines Rettungsschiffes zu stark bewegten. Die italienische Küstenwache konnte etwa 150 Flüchtlinge retten. Laut italienischen Medien brachte eine Überlebende auf dem Rettungsschiff ein Kind zur Welt, eine andere Schwangere starb auf der Überfahrt nach Kalabrien.
Unter den Überlebenden sind nach Angaben der Hilfsorganisation "Save the Children" vermutlich zahlreiche Minderjährige. In den vergangenen Tagen zählte die Organisation bereits 450 Flüchtlingskinder, darunter 317 ohne Begleitung, die die italienische Küste erreichten.
Der Vizepräsident des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland, Friedrich Hauschildt, sprach von einer absehbaren Katastrophe und warf der EU eine Abschottungspolitik vor. Notwendig seien neben einer Seenotrettung mehr legale Wege nach Europa und vereinfachte Visa. Die EU habe aus der Katastrophe von Lampedusa im Herbst 2013 nichts gelernt. Auch damals waren fast 400 Menschen ertrunken.
Wegen günstigen Wetters und des Verfalls staatlicher Strukturen in Libyen stieg die Zahl der Bootsflüchtlinge aus Libyen in den vergangenen Monaten an. Ein Schiff der italienischen Küstenwache hatte am Vortag allein in Palermo rund 1.100 Flüchtlinge von mehreren Kuttern gerettet. Schätzungen zufolge warten in dem nordafrikanischen Land bis zu eine Million Menschen aus Afrika südlich der Sahara auf eine Passsage nach Europa.
Einstellung von "Mare Nostrum" ein "tödlicher Fehler"
Der italienische Außenminister Paolo Gentiloni forderte, die internationale Gemeinschaft auf, Libyen zu stabilisieren. Dabei sei die Bekämpfung der Schleuserbanden vordringlich. Der italienische Justizminister Andrea Orlando verwies auf die Geschäfte der Schleuser: "Wir sind uns des hohen Risikos bewusst, dass die Verbrecherorganisationen, die sie kontrollieren, den Terrorismus finanzieren können." Auch in Deutschland forderten Politiker von Regierung und Opposition ein entschlossenes Handeln der EU. Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter erklärte, die Einstellung von "Mare Nostrum" sei "ein tödlicher Fehler" gewesen. Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, bezeichnete die Tragödien im Mittelmeer als "Verbrechen, begangen an Menschen in Not". Sie warf Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vor, allein die Sicherheit der EU-Außengrenzen im Blick zu haben und sich nicht für die Seenotrettung einzusetzen.
Ein Sprecher des Ministeriums erklärte, Schwerpunkt der Operation Triton sei der Grenzschutz. Dennoch würden heute mehr Flüchtlinge gerettet als während des "Mare Nostrum"-Programms. De Maizière bemühe sich im Rahmen der EU intensiv um Lösungen des Flüchtlingsproblems.
Im vergangenen Jahr erreichte die Zahl der Bootsflüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangten, mit mindestens 218.000 laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk einen Höchststand. 3.500 Menschen starben bei der gefährlichen Passage nach Europa.