Käßmann kritisiert europäische Flüchtlingspolitik

Käßmann kritisiert europäische Flüchtlingspolitik
Europa nehme viel weniger Flüchtlinge auf als viele andere Regionen der Welt, sagte die Theologin. Mehr als die Hälfte der EU-Mittel für Migrationspolitik würden ausgegeben, um Grenzen zu sichern und Menschen abzuschieben.

Als "restriktive Migrationsabwehr" hat die Theologin Margot Käßmann die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union kritisiert. Europa nehme im Gegensatz zu anderen Regionen nur ein Minimum der Flüchtlinge in der Welt auf, sagt sie am Mittwoch in Tübingen. In Westeuropa lebten im Schnitt acht bis zwölf Prozent Migranten, während es in anderen Staaten bis zu 80 Prozent Flüchtlinge gebe. Dies müsse klar kommuniziert werden, sagte die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Käßmann äußerte sich bei einer Feier zur Einsetzung in ihr Amt als Ehrensenatorin der Universität Tübingen, wo sie einst studierte. Sie ist die zweite Frau in dem Gremium.

Mehr als die Hälfte der EU-Mittel für Migrationsmanagement gingen in die Bereiche Grenzschutz und Abschiebung, sagte die Theologin. Der Friedensnobelpreis, den die Europäische Union vor zwei Jahren erhalten habe, sei dagegen auch eine "Verpflichtung, den Blick auf die Menschen an und außerhalb der Grenzen Europas zu richten". Zur Bitte von Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) an die Kirchen, Gebäude und Klöster für Flüchtlinge zu öffnen, sagte Käßmann: "Das ist ja fast beschämend, dass ein Bundesminister dafür erst an die Kirchen appellieren muss."

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Zum Kampf gegen die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) sagte Käßmann, wer auf Gewalt verzichte, könne ebenso schuldig werden wie jemand, der mit Gewalt Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern wolle. Dies bleibe ein ethisches Dilemma. Der IS pervertiere den Islam in einem "Exzess von Gewalt" vor allem gegenüber seinen eigenen Glaubensgeschwistern, so Käßmann. Die ehemalige Bischöfin und heutige EKD-Reformationsbotschafterin war jüngst heftig angegriffen worden, weil sie geäußert hatte, sie fände es gut, wenn Deutschland wie Costa Rica ohne eigene Armee auskommen könnte.

Der Rektor der Tübinger Eberhard-Karls-Universität, Bernd Engler, würdigte Käßmanns Einsatz für Toleranz, ein friedliches Miteinander und sozial Benachteiligte. Sie habe sich um die Förderung der Ökumene und des Dialogs  zwischen Christen und Muslimen verdient gemacht. Sie sei in der Religion tief verwurzelt. Der Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies sagte in seiner Laudatio, Käßmanns Engagement verweise auf die "lebenspraktische, seelsorgerliche Dimension" der Theologie. Sie lenke den Blick auf die "tiefe Kraft reformatorischer Theologie", in den Ambivalenzen des Lebens Orientierung zu geben.

Käßmanns Nachfolger als EKD-Ratsvorsitzender, Nikolaus Schneider, würdigte die Preisträgerin als markante und glaubwürdige Vertreterin des christlichen Glaubens. Sie habe in ihren verschiedenen Ämtern das Evangelium durch Wort und Tat gepredigt, erklärte Schneider in Hannover. Als Buchautorin knüpfe die neue Ehrensenatorin an das Talent des Wittenberger Professors Martin Luther an, "mit starken Sätzen nicht nur polemisch zuzuspitzen, sondern auch starken Trost zu vermitteln". Verdienste habe sich Käßmann auch um die Etablierung von Frauen in kirchlichen Leitungsämtern erworben.

Die Universität Tübingen verleiht die Ehrensenatorenwürde an Persönlichkeiten, die sich um Wissenschaft, Forschung, Kunst, Kultur und gesellschaftliche Verständigung verdient gemacht haben. Käßmann studierte ab 1977 vier Semester evangelische Theologie in Tübingen. Zu den derzeit 33 auf Lebenszeit berufenen Ehrensenatoren gehören auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler, der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel und der Schriftsteller Peter Härtling. Bisher einzige Frau war die Chefin des Werkzeugmaschinenherstellers "Trumpf", Nicola Leibinger-Kammüller.