Das Berliner "Centrum Judaicum" hütet in seinen Archiven einen besonderen Schatz. Einen, der 1930 auf der Schreibmaschine entstand: die Streitschrift "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?", geschrieben von Regina Jonas, der weltweit ersten Rabbinerin. Darin führte sie den Beweis, dass die jüdischen Religionsgesetze Frauen im rabbinischen Amt nicht verbieten. 1935 erhielt sie in Offenbach die Smicha, die formelle Einsetzung als Rabbinerin. Neun Jahre später, am 12. Oktober 1944, wurde Regina Jonas im Alter von 42 Jahren in Auschwitz ermordet.
Es ist das Verdienst von Elisa Klapheck, Rabbinerin in Frankfurt am Main, dass die streitbare Frau wiederentdeckt wurde. Klaphecks Biografie über Regina Jonas erschien 2003. Darin veröffentlichte sie auch Jonas' Studienarbeit im Fach "Talmudische Wissenschaft". "Ihr Anliegen war es zu beweisen, dass sich die Gleichberechtigung der Frau aus den jüdischen Religionsgesetzen selbst ableiten ließ", sagt Autorin Klapheck: "Das weibliche Rabbinat sollte kein neues Zeitalter einläuten, sondern vielmehr eine bestehende Tradition bestärken und fortführen."
Jonas lebte streng nach den jüdischen Religionsgesetzen und hielt folglich auch am Prinzip der Geschlechterteilung in den Synagogen fest. Und doch kam sie in ihrer Studienarbeit zu dem Schluss, dass dem Bekleiden des Rabbineramtes durch Frauen "außer Vorurteil und Ungewohntsein in religionsgesetzlicher Hinsicht fast nichts entgegensteht." Rabbinerinnen betrachtete sie als "Kulturnotwendigkeit".
Sally Priesand war 1972 nicht die Erste
Regina Jonas wird am 3. August 1902 im Berliner Scheunenviertel geboren. Ihr Vater, der Hausierer Wolf Jonas, stirbt schon 1913. Das aufgeweckte Mädchen besucht das Öffentliche Oberlyzeum in Berlin-Weißensee und schreibt sich 1924 an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein, die 1872 eröffnet worden war und auch Frauen zuließ. Doch anders als viele Mitstudentinnen, die Religionslehrerinnen werden wollen, verfolgt Regina Jonas nur ein Ziel: Sie will Rabbinerin sein.
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Für ihre Streitschrift erhielt Jonas 1930 das Prädikat "gut". Dennoch wollte die Hochschule sie nicht als Rabbinerin ordinieren, wohl aus Angst vor einem Skandal. Jonas erhielt nur das Zeugnis einer "akademisch geprüften Religionslehrerin". Viele ihrer einstigen Schülerinnen, die die NS-Verfolgung überlebten, erinnerten sich später an Jonas' hervorragenden Unterricht. Sie beschrieben sie als eine "unvergeßbar schöne Person" mit einem "intelligenten Gesichtsausdruck" und einer "tiefen, angenehmen Stimme".
Erst 1935 stellte ihr der liberale Rabbiner Max Dienemann in Offenbach das Rabbinatsdiplom aus. Ab 1937 war sie in Berlin bei der Jüdischen Gemeinde beschäftigt - doch zunächst auch nur als Religionslehrerin. Allerdings durfte sie in Heimen und Kliniken die "rabbinisch-seelsorgerliche Betreuung" übernehmen. Die Kanzel blieb ihr weiter versperrt. Wohl predigte sie und gestaltete religiöse Feste, doch nur in dem der Neuen Synagoge vorgelagerten Trausaal.
Ab 1938 führte die NS-Rassenpolitik dazu, dass Jonas immer häufiger Gemeinderabbiner vertreten musste, die ausgewandert, verhaftet oder deportiert worden waren. Nach der Zwangsarbeit in einer Kartonagenfabrik wird sie am 6. November 1942 mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert. Dort betreut sie neu ankommende Häftlinge im sogenannten "Referat für psychische Hygiene", das vom Wiener Psychoanalytiker Viktor Frankl geleitet wird. Am 12. Oktober 1944 kommt Jonas nach Auschwitz und wird vermutlich noch am Tag ihrer Ankunft ermordet.
Fast vier Jahrzehnte sollte es dauern, bis wieder eine Rabbinerin ordiniert wurde: 1972 kam Sally Priesand in Cincinnatti ins Amt - und wird irrtümlich als erste Rabbinerin weltweit bezeichnet: "Eine Falschinformation, die von Schoah-Überlebenden, die es besser wussten, nicht korrigiert wurde", merkt Klapheck kritisch an.
"Mir war nie drum zu tun, die Erste zu sein"
Heute sind Rabbinerinnen im Reformjudentum keine Seltenheit mehr. Ihre Zahl wird auf rund 1.000 geschätzt, bei etwa 4.000 männlichen Kollegen. In Deutschland gibt es seit 1995 Rabbinerinnen, derzeit sind es fünf: in Berlin, Hameln, Frankfurt am Main, Bamberg sowie Oldenburg und Delmenhorst.
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"Sie wollte berühren, wachrütteln, aufrichten, Trost spenden, belehren und jüdischen Lebenssinn zurückgeben", schreibt die Judaistik-Expertin Rachel Monika Herweg über Regina Jonas und verweist auf Schriftstücke und persönliche Danksagungen aus Jonas' Nachlass. Auch Elisa Klapheck bescheinigt Jonas ein außergewöhnliches Talent: "Überlebende berichteten, dass sie eine begnadete Predigerin und Seelsorgerin gewesen ist, die es verstand, die Seelen wieder aufzurichten und den Menschen Mut zu machen."
Mit der Ordination von Regina Jonas 1935 "wurde ein bedeutendes Tor aufgestoßen zur Gleichberechtigung der Frau im Judentum", sagt Rabbiner Walter Homolka, der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Berlin: "Deutsche Mörder bereiteten dieser Entwicklung in Auschwitz ein jähes Ende."
Für Regina Jonas, die sich stets zu Recht an der Seite ihrer männlichen Kollegen sah, war ihre Vorreiterrolle indes auch eine Belastung: "Mir war nie drum zu tun, die Erste zu sein. Ich wünschte, ich wäre die 100.000." Doch zugleich stand für sie fest: "Die Welt besteht nun einmal durch Gott aus zwei Geschlechtern und kann nicht auf die Dauer nur von einem Geschlecht gefördert werden."