Erziehungswissenschaftler: Jeder sollte im eigenen Tempo lernen

Erziehungswissenschaftler: Jeder sollte im eigenen Tempo lernen
In der Debatte um das Abitur nach acht oder neun Jahren plädiert der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Martin Heinrich für mehr Flexibilität.
25.08.2014
epd
Katrin Nordwald

Schüler auf feste Strukturen, ob G9 oder G8, festzulegen, sei pädagogisch nicht sinnvoll, sagte der wissenschaftliche Leiter des nordrhein-westfälischen Oberstufen-Kollegs dem Evangelischen Pressedienst (epd). Vielmehr sollte die Oberstufe auf vier bis fünf Jahre ausgeweitet werden. So könnte etwa ein Schüler den Englischkurs der Jahrgangsstufe 11 besuchen, in Mathe mit dem Stoff aber schon ein Jahr weiter sein. Bei Schwierigkeiten sollte er einzelne Kurse wiederholen können.

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Auch die Abiprüfungen müssten entsprechend entzerrt werden: Wer sich in einem Fach sicher fühle, sollte nach zwei Jahren in der Oberstufe die Prüfung ablegen, gleichzeitig aber die Möglichkeit haben, sich in einem anderen Fach Zeit zu lassen. So würde mehr Bildungsgerechtigkeit geschaffen, weil mehr jungen Menschen die Chance auf das Abitur eröffnet werde.

An herkömmlichen Gymnasien herrsche das Klima "wer nicht mitkommt, muss wechseln oder Nachhilfe nehmen", kritisierte der Erziehungswissenschaftler. Der Unterricht selbst werde nicht angezweifelt. Die Kultusminister müssten aufpassen, dass in Deutschland nicht ein zweites Schulsystem durch Nachhilfe entstehe wie in einigen asiatischen Staaten, warnte Heinrich: "Nachhilfe ist die Bankrotterklärung des öffentlichen Schulsystems".

Auch das reguläre Einschulungsalter von sechs Jahren sei ein Zeichen von "Überstrukturierung": "Die Zusammenfassung von Schülern in Jahrgangsgruppen lässt keine Vielfalt zu." Bildungs- und leistungshomogene Klassenverbünde lernten aber nicht besser, sondern seien rein am Konkurrenzprinzip orientiert. "Das ist wie ein Wettlauf. Heterogene Lerngruppen sind pädagogisch gesehen effektiver, weil die Schüler voneinander lernen, der Leistungsstärkere hilft dem, der noch Schwierigkeiten mit dem Stoff hat." Der Lerninhalt werde reflektiert und habe nachhaltig Bestand.

Am Bielefelder Oberstufen-Kolleg, vor 40 Jahren als Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen gegründet, sei man auf unterschiedliche Leistungsniveaus von Schülern eingestellt. Junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet machen dort ihr Abitur, ein Drittel ohne erforderliche Qualifikationen wie etwa dem in Nordrhein-Westfalen üblichen Q-Vermerk. "Viele erhalten hier die letzte Chance aufs Abi, die im gängigen Bildungssystem gescheitert sind", sagt Heinrich. Im Durchschnitt schnitten sie am Ende besser ab andere nordrhein-westfälische Abiturienten.

Bundesweit einmalig sei die Anbindung an die Universität Bielefeld. Zehn Erziehungswissenschaftler begleiten den Schulalltag, erforschen mit den Lehrern neue Unterrichtsmethoden. "Wir probieren vieles aus, um daraus Rückschlüsse für die Reform der Regelschule zu ziehen", sagt Heinrich.