Völkermord im Irak: "Die Welt schaut zu und tut nichts"

dpa/Caroline Seidel
In Bielefeld haben mehrere tausend Jesiden und irakischstämmige Christen gegen die Gräuel der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Nordirak demonstriert.
Völkermord im Irak: "Die Welt schaut zu und tut nichts"
Viele bangen um ihre Verwandten im Nordirak. Dort sind sie von islamistischen Milizen eingeschlossen. Um auf die verfolgte religiöse Minderheit aufmerksam zu machen, kamen Tausende Jesiden aus ganz Deutschland in Bielefeld zusammen.
10.08.2014
epd/dpa
Uwe Rottkamp und Holger Spierig

"Was sind wir? Jesiden sind wir. Was wollen wir? Freiheit wollen wir!" Vom Lautsprecherwagen schallt es in die Menge, von dort kommt die Antwort in einem Chor von Stimmen zurück. Begleitet von einem dichten Polizeiaufgebot trifft der Zug lautstark, aber friedlich auf dem großen Platz am Kesselbrink ein, auf dem kurz zuvor die Wochenmarkthändler die letzten Obst- und Gemüsekisten verstaut und abtransportiert haben.

6.000 Teilnehmer sind nach Polizeiangaben in Bielefeld zusammengekommen. Die Veranstalter schätzen die Zahl auf mehr als doppelt so viele. Sie sind hier, um vor einem drohenden Völkermord zu warnen. Im nördlichen Irak werden die Jesiden von der sunnitischen IS-Miliz verfolgt. Zigtausende sind ins Sindschar-Gebirge geflohen, wo sie ohne Lebensmittel und Wasser ausharren.

Jesiden: Verjagt, ermordet oder zwangskonvertiert

"Hier findet ein Genozid statt, und die Welt schaut zu und tut nichts", klagt Ali. Der 33-Jährige ist in Deutschland aufgewachsen, seine Familie stammt aus dem nordirakischen Shingal. Der Region, in der zuerst die Christen vertrieben wurden und jetzt die Jesiden verjagt, ermordet oder zwangskonvertiert werden. Das Jesidentum ist eine rund 4.000 Jahre alte Religion, die Glaubenselemente und Riten westiranischer und altmesopotamischer Religionen sowie von Judentum, Christentum und Islam verbindet.

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"Die, die bisher überlebt haben, sind in die Berge geflüchtet", berichtet Ali. Die Nachrichtenbilder mit abgeworfenen Hilfsgütern können ihn nicht beruhigen. "Die Kisten mit Wasser und Nahrungsmitteln kommen bei ihnen gar nicht an", berichtet er von seinen Telefonkontakten, die noch möglich sind.

Faist Mahmud Karow lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Wenn der Jeside erzählt, ist ihm die Erschütterung deutlich anzumerken. Er habe in den letzten Tagen 15 Familienmitglieder in Shingal verloren: "Vater, Brüder, Enkel, sie liegen noch immer irgendwo in den Bergen und konnten nicht einmal beerdigt werden." Die Bergregion, die den Geflüchteten zurzeit noch als Schutzraum dient, ist 14 Kilometer breit und 76 Kilometer lang.

Die Menschen in den Bergen brauchen sofort eine sichere Zone, in der Krankenstationen eingerichtet werden müssen, sagt Karow. Nur so könne die menschliche Katastrophe noch abgewendet werden. Viele junge Jesiden fordern ein direktes militärisches Vorgehen der Staatengemeinschaft gegen Terror der islamistischen Milizen "Islamischer Staat" (IS).

Neue US-Luftschläge gegen Terrormiliz IS

Die USA haben am Samstag vier neue Luftangriffe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ausgeführt. Wie das US-Zentralkommando in Tampa (Bundesstaat Florida) mitteilte, galten die Operationen dem Schutz der nordirakischen Jesiden, die vor den Gräueltaten der Dschihadisten in das Sindschar-Gebirge geflüchtet sind und von den Terroristen willkürlich angegriffen worden seien. Alles deute darauf hin, dass die Angriffe erfolgreich gewesen seien.

Auch versorgten US-Flugzeuge die Menschen in Sindschar-Gebirge zum dritten Mal mit Wasser und Lebensmittel, teilte das Zentralkommando in der Nacht zum Sonntag mit. Bisher seien damit mehr als 52.000 Packungen Fertigessen und Behälter mit mehr als 40.000 Liter Wasser abgeworfen worden.

US-Präsident Barack Obama hatte zuvor erneut betont, dass der Militäreinsatz der USA begrenzt sei und keine Bodentruppen in den Irak zurückkehren würden. Es werde weitere Luftangriffe geben, wenn dies zum Schutz der Amerikaner oder religiöser Minderheiten im Land nötig sei. Auf einen Zeitrahmen dafür, wie lange diese Operationen andauern könnten, legte er sich nicht fest.

Stattdessen verwies Obama wiederholt darauf, dass die USA das Problem letztendlich nicht lösen könnten, auch nicht militärisch. "Wir können das nicht für sie erledigen", sagte er am Samstag vor seiner Abreise in einen rund zweiwöchigen Urlaub auf Martha's Vineyard. Nötig sei die Bildung einer Regierung im Irak, die die religiöse und gesellschaftliche Vielfalt im Land widerspiegele. Er glaube nicht, sagte Obama mit Blick auf den Kampf gegen die IS-Miliz, "dass wir dieses Problem innerhalb von Wochen lösen können...Es ist wird ein Langzeit-Projekt sein."

Jesiden fliehen nach Syrien

Nach UN-Angaben sind allein seit dem vergangenen Montag rund 200 000 Menschen im Nordirak vor den vordringenden IS-Kämpfern geflohen. Die meisten stammten aus christlichen und jesidischen Dörfern. Weiterhin seien noch Tausende vornehmlich jesidische Familien bei Temperaturen von mehr als 40 Grad Celsius im Sindschar-Gebirge eingeschlossen. Die UN-Mission im Irak schätzt deren Zahl auf 15.000 bis 55.000. Insgesamt haben sich der UN zufolge bereits mehr als 600.000 Menschen aus Syrien und dem Irak in die kurdische Autonomieregion im Nordirak in Sicherheit gebracht.

Die jesidische Parlamentsabgeordnete in Bagdad, Vian Dachil, warnte nach Angaben des kurdischen Nachrichtenportals Basnews, dass die jesidischen Flüchtlinge innerhalb von zwei Tagen in Sicherheit gebracht werden müssten, sonst drohe ein Massensterben. Ihren Angaben nach starben bereits 50 jesidische Kinder in den Bergen. Bislang gingen die Hilfsmaßnahmen nicht schnell genug voran. Die Jesiden sind eine alte monotheistische Glaubensgemeinschaft, der vor allem Kurden angehören.

Informationen des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeit "Civaka Azad" zufolge konnten mindestens zehntausend Menschen inzwischen durch einen von kurdischen Milizen geschützten Korridor in kurdische Gebiete in Syrien fliehen.

Grünen warnen vor "humanitärer Katastrophe"

Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen in Nordrhein-Westfalen, Sigrid Beer, warnt vor einer "humanitären Katastrophe". Die Verfolgung von Jesiden, Christen, Aleviten, und weiteren Minderheiten nehme immer größere Ausmaße an, warnt Beer, die auch Mitglied der Kirchenleitung der westfälischen Kirche ist. Ein humanitärer Korridor müsse umgehend eingerichtet werden, damit sich die Flüchtlinge aus unmittelbarer Lebensgefahr in Sicherheit bringen können. "Sie brauchen Wasser Nahrungsmittel und Medikamente für den Weg." Außerdem müssten die Flüchtlingsorganisationen in die Lage versetzt werden, die Menschen aufzunehmen unterzubringen und weiter zu versorgen.

"Wir dürfen nicht schweigen, wenn fast 50.000 Jesiden in den Sindschar-Bergen in der Falle sitzen, erklärt auch die Pfarrerin der westfälischen Kirche, Kirsten Potz. Die Hälfte davon seien Kinder. "Die ersten sind schon verhungert und verdurstet." Deutschland müsse zudem die Flüchtlinge, die hierherkämen, "mit offenen Armen aufnehmen, viele mehr als bisher". 

Befürchtete Ausschreitungen wie das Aufeinandertreffen mit islamistischen Gruppen bleiben aus. Doch am Ende kommt es zu kleineren Tumulten, als sich eine kleine Gruppe der Kundgebung nähert. Erst fliegen Beschimpfungen dann leere Flaschen zwischen den Gruppen. Die Polizei trennt jedoch die Lager schnell. Die Gruppe gehöre offenbar weder der Salafisten-Szene noch anderen extremen Vereinigungen an, erklärt die Polizei.

Papst: "Kein Krieg im Namen Gottes"

Papst Franziskus hat für die von radikalislamischem Terror im Nordirak betroffenen Menschen gebetet und sich erneut nachdrücklich für eine friedliche Konfliktlösung dort eingesetzt. "Man führt nicht Krieg im Namen Gottes", sagte der Papst am Sonntag nach dem Angelus-Gebet in Rom zum religiösen Hass in dem Konflikt.

Tausende Menschen würden brutal aus ihren Häusern verjagt, darunter viele Christen, und Frauen entführt. Kinder kämen auf der Flucht um und es gebe Gewalt jeder Art, klagte der Papst. All dies beleidige Gott und die Menschheit.

In mehreren Tweets zum Irakkrieg hatte Franziskus am Samstag die Staatengemeinschaft aufgefordert, alle Opfer der Gewalt zu beschützen. Er bat alle Pfarreien und katholischen Gemeinschaften, "an diesem Wochenende besonders für die irakischen Christen zu beten." Am Montag soll ein hochrangiger Gesandter des Papstes in die Region aufbrechen. Franziskus setzte sich zudem erneut auch für ein Ende des Gaza-Krieges ein.