Als der Mann einer Mandantin aus Wut über den verlorenen Scheidungsprozess einen Fernseher durch das geschlossene Fenster ihres Frankfurter Büros warf, wusste Elli Radinger, dass dies der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. "Egal, was kommen würde, nichts könnte so schlimm sein wie das", erinnert sich die 61-Jährige. Genau an diesem Tag traf auch der Brief mit ihrem Scheidungsurteil ein. Das war vor zwanzig Jahren. Der Weg in ihr neues Leben stand ihr offen. Die Anwältin hing ihre Robe an den Nagel, packte ihre Sachen, begann ein Praktikum in einem Wolfsgehege in Amerika, machte ein weiteres im Yellowstone-Nationalpark, dem ältesten der Welt, und bezeichnet sich fortan selbst als "unabhängige Freilandforscherin": Sie beobachtet Wölfe und schreibt auf, was sie mit eigenen Augen sieht.
"Zunächst aber erlebte ich den Spott von Freunden, finanzielle Probleme und einen gesellschaftlichen Abstieg", erzählt Radinger in ihrem Elternhaus im hessischen Wetzlar. Unverständnis schlug ihr von allen Seiten entgegen; gepaart mit der Frage, wovon sie denn jetzt leben wolle? Dabei hat sie das geschafft, wovon heute viele nur träumen: Ihren eigenen Traum auch zu leben. Ihr Arbeitsplatz war von nun an die Natur in einem der schönsten Gebiete Amerikas. Statt in einem muffigen Gerichtsaal zu sitzen und Mandanten zu empfangen, die ihre Frustration bei ihr abluden, hatte sie von nun an mit Menschen zu tun, die Freude an ihren Urlaub in den USA hatten. Schon als Kind träumte sie davon unter einem Baum zu sitzen, viele Tiere um sich herum zu haben und Bücher zu schreiben.
Mit dem Flieger um die Welt und in Rekordzeit durch das Jura-Studium
Anfang der 1970er Jahre wollte sie die Welt sehen und bereiste sie als Flugbegleiterin fünf Jahre lang. Damals arbeitete sie auf dem Frankfurter Flughafen auch in einer Sonderbetreuungsabteilung, die wegen ihrer roten Mützen, die sie trugen, den Namen "Rotkäppchen" hatte und sich um Kinder, Alleinreisende und Rollstuhlfahrer kümmerte. "Damals war ich Rotkäppchen und heute bin ich mit einem Wolf liiert, wenn man das so sehen will“, sagt sie und schmunzelt. Ehrgeizig war sie schon immer. So hatte sie es auch nicht als Bruch empfunden, sich anschließend im Jurastudium mit Paragraphen zu beschäftigen.
Getrieben wurde sie von ihrem Gerechtigkeitssinn, allen Menschen zu ihrem Recht verhelfen und die Welt verbessern zu wollen. Das erste Staatsexamen hat sie in Rekordzeit geschafft. Schließlich wollte sie die erste Fachanwältin für Luftverkehrsrecht werden. Im Kopf hatte sie eine klare Vorstellung von ihrem künftigen Leben: Als Spezialistin jette sie durch die Welt, würde von der NASA aufgefordert und schriebe Gutachten darüber, wem der Mond gehört. "Ein schöner Traum", sagt sie heute und fügt hinzu: "Die Realität aber war eine andere."
Nach dem zweiten Staatsexamen bekam sie keine Arbeit im Luftverkehrsrecht. Also machte sie sich als Anwältin für drei Jahre selbstständig. Jeder Tag war für sie eine emotionale Herausforderung: "Sobald ich mich mit Leuten streiten musste, wurde es für mich furchtbar. Eigentlich ziehe ich mich dann eher zurück. Mit meinen Klienten habe ich mit gelitten. Mir fehlte die Distanz. Vielleicht setzt man sich aber mehr ein, wenn man leidenschaftlicher ist?" Vor jeder Gerichtsverhandlung bekam sie Magenschmerzen und ihr war schlecht. "Wo ist mein ursprünglicher Traum, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, geblieben?", fragte sie sich. Die Erfahrung lehrte sie damals, dass nicht die "Guten" gewannen, sondern jene, die die miesesten Tricks kannten. "So konnte und wollte ich nicht für den Rest meines Lebens weitermachen", sagt Radinger heute. Damals war sie Anfang 30.
Der richtige Ehrgeiz ebnet neue Wege
"Ich habe als Anwältin mein Bestes gegeben und das war nicht gut genug, weil ich nicht dahinter stand", sagt sie heute und nippt an ihrer Tasse Kaffee. Sie fühlte sich wie in einem Hamsterrad gefangen, strampelte sich ab, und trotzdem sollte alles immer noch schneller und etwas besser werden. "So gesehen trieb mich falscher Ehrgeiz an, war ich wohl zu tüchtig gewesen", sagt sie. Aus diesem Korsett brach sie aus und wählte die Freiheit. Sie hätte sich auch Hunden oder Schafen widmen können - warum also Wölfen? "Diese Sehnsucht nach Freiheit, Wildnis und Einsamkeit steht irgendwie immer über meinem Leben. Ich wusste, das kann ich bei den Wölfen finden. Die Wölfe haben mich gelehrt, die Welt mit anderen, ihren Augen zu sehen. Und sie haben mir geholfen, zu verstehen, wer ich bin und wo mein Platz in dieser Welt ist", erzählt die ehemalige Anwältin.
"In vielen Dingen sind sie die besseren Menschen", erzählt Radinger und erklärt, dass wildlebende Wölfe eine komplexe Sozialordnung haben. Diese Raubtiere kennen keine häusliche Gewalt, die Väter sind leidenschaftliche Väter. Die komplette Familie kümmert sich aufopfernd um die Kleinen. Radinger räumt gerne Vorurteile beiseite: "Was viele nicht wissen: Die Tiere kümmern sich sehr fürsorglich um ihre Kranken und Alten, pflegen und versorgen sie." In veralteten Büchern könne man lesen, dass sie diese tot beißen. Dass das nicht stimmt, hat die Wolfsfrau selbst in der Freilandforschung beobachten können. Wölfe seien friedlicher als man denkt, sagt sie. Vor allem aber seien sie scheu und fräßen keine Kinder, fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu.
Entspannung durch das leidenschaftliche Spiel der Raubtiere
Wenn Radinger mit den Wölfen zusammen ist, vergisst sie alles um sich herum, ist im Einklang mit der Natur. Sie ist davon überzeugt, dass, wer einem Wolf begegne, diesen Moment nicht vergessen werde. "Wölfe haben generell eine gute Balance zwischen Arbeit und Spaß. Sie müssen Futter besorgen, um ihre Familie zu beschützen, was für uns auch eine Lebensnotwendigkeit ist. Sonst spielen sie sehr viel. Wölfe wirken sehr viel entspannter als Menschen, indem sie sich nicht für Sinnloses aufreiben", sagt sie und ergänzt: Es gebe nicht dieses 'Ich muss tüchtig sein'.
Bild links: Ein großes Spektiv, ein Fernglas und ein Funkgerät sind wichtige Ausrüstungsgegenstände für die Wolfsbeobachtung. Foto: privat
Ein paar "Wolfsregeln" hat sie für sich übernommen: Erstens: "Liebe Deine Familie", zweitens: "Kümmere Dich um die, die dir anvertraut sind", drittens: "Gib niemals auf" und viertens: "Hör nie auf zu spielen". Ihre Eltern haben sich längst daran gewöhnt, dass sie anders lebt als andere und sind stolz auf ihre Tochter. Wenn Elli Radinger heute nach Frankfurt fährt, schaut sie nicht mehr bei ihrer alten Kanzlei vorbei, dort, wo früher ein Messingschild ihren Namen trug.
"Wissen Sie was passiert, wenn ich mal ins Gericht muss? Dann habe ich wieder dieses flaue Gefühl im Magen und danke Gott, dass ich jetzt so leben darf, wie ich es tue."
Die Wölfe geben Selbstvertrauen und lehren Freiheit und Treue
Radinger fragt sich, warum Menschen immer alles kontrollieren und manipulieren wollen. Die Wölfe lehren sie Demut und Akzeptanz. Sie beklagt die Jagd nach dem schnellen Kick: "Das scheint das Motto der zivilisierten Welt zu sein. E-Mails, SMS, Twitter, alles muss schnell gehen. Unser Leben rast, und wir sind immer schneller gelangweilt. Ein qualitativ hochwertiges Essen zu kochen braucht gute Zutaten und Zeit. Also essen wir lieber Fast Food. Wir wollen unterhalten werden, und wenn uns das Programm nicht passt, wechseln wir den Kanal. Multitasking ist angesagt. Ständig muss etwas passieren. Ruhe und Stille waren gestern, Action ist heute", schreibt sie in ihrem Buch "Wolfsküsse". Die Frau lässt sich nicht schnell aus der Ruhe bringen. Ihre Sinne schärft sie durch Übungen, indem sie an einem Tag bewusster hört, riecht schmeckt oder fühlt.
"Die Wölfe haben mich Freiheit gelehrt und Treue, die Bedeutung von Verrat, Trauer und Verlust. Sie haben mir beigebracht, wie wichtig eine Familie ist, dass wir die begrüßen, die wir lieben, und dass wir das Leben feiern." Wölfe sind Tiere, die ohne große Anstrengung einen ausgewachsenen Elch erledigen können. Sie erklärt: "Als wäre ich wie Phoenix aus der Asche gestiegen, hatte ich meine Stärke, Selbstvertrauen und Zuversicht wieder gewonnen."
Elli Radingers Leben hat sich in vielem verändert, seitdem sie im Einklang mit der Natur lebt. "Ich sehe mich jetzt als ein Teil meiner Umwelt. Das bedeutet auch, dass ich Verantwortung für sie trage." Ihre Lebensmittel kauft sie beim örtlichen Bauern und den Salat pflanzt sie selbst an. Sie braucht keine Erdbeeren im Winter, sondern ernährt sich nach den Jahreszeiten. "Ich bin nicht perfekt und mache auch Fehler. Doch so wie die Wölfe gehe ich jetzt entspannter durch das Leben. Tiere kennen keine Zweifel. Sie leben in einer Art Urvertrauen. Das bedeutet nicht, dass sie keine Katastrophen erleiden. Aber sie vertrauen darauf, dass alles gut werden wird."
Der Leitwolf ist mit seiner natürlichen Autorität ein Team-Player
Wütend wird Radinger, die Gehegewölfe und wildlebende Wölfe kennen gelernt hat, über das Bild des Alpha-Tieres, das in Manager-Schulungen mit Titeln wie "Führen wie ein Alpha-Wolf" bemüht wird. Alpha bedeute für viele einfach nur, Dominanz zu zeigen und sich ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Das Bild dieses Führungsstils hinkt ihrer Ansicht nach völlig, weil der Wolf ein Team-Player sei, natürliche Autorität besitze und seine Familie anführe und erziehe. Manager sollten sich Wölfe und ihr soziales Verhalten aber durchaus zum Vorbild nehmen: "Für mich ist ein Leittier jemand, der Persönlichkeit hat, der es gar nicht nötig hat, jemanden zu dominieren, runter zu machen. Also jemand, der allein durch seine Persönlichkeit und sein Vorbild eine Gruppe führen kann. Es geht nicht darum, wer der Größte ist, wer am lautesten schreit oder wer am besten draufhaut . Die Kleinen folgen ihren Eltern, weil diese für sie ein Vorbild sind."
Ihre Bestätigung oder Glücksgefühle zieht sie sich direkt aus der Natur. "Wenn Sie wollen, aus meiner Beziehung zu Gott. Ich sehe Gott dort überall", sagt Radinger. Sie ist ein religiöser Mensch, aber nicht in dem Sinne, dass sie in die Kirche geht, nicht einmal an den großen Feiertagen. "Meine Kirche ist immer draußen in der Natur. Ich bin in Gott und Gott ist in mir", sagt sie. Sie versucht, niemandem Schaden zuzufügen und sich an die "großen" Regeln des Lebens zu halten. Glück empfindet sie, wenn sie in so einem intakten Ökosystem wie im Yellowstone-Nationalpark sein kann, wo alles ihrer Ansicht nach stimmig ist.
Um ein Gefühl für sich und die Natur zu erhalten, müsse man aber nicht notwendigerweise "Wölfe gucken". Sie rät, einfach mal mit offenen Augen und nicht mit dem Handy in der Tasche in den Wald zu gehen. Sich auf den Wald einzulassen, Vögel zu beobachten und die Hose hochzukrempeln und durch einen Fluss zu waten. Kinder haben dafür meist noch ein gutes Gespür, weiß Radinger.
Das Fasten ermöglicht die Konzentration auf das Ursprüngliche
Gerade macht sie bei der Fastenaktion der evangelischen Kirche "7 Wochen ohne falschen Ehrgeiz" mit und verzichtet auf Facebook und ihren Online-Blog. "Es ist immer noch sehr schwierig, weil ich oftmals Meldungen bekomme, die ich auf der Facebook-Seite meines Wolf-Magazins gerne einstellen würde, weil ich denke, dass die Menschen das doch erfahren müssen. Auf der anderen Seite dreht sich die Welt weiter, der nächste Tag bricht an und es war gar nicht so tragisch, dass die Leute das jetzt nicht erfahren haben." Das Fasten schenkt ihr Zeit für die nötige Konzentration, schreiben zu können, statt im Internet rumzusurfen und zu schauen, was es Neues gibt.
Heute blickt sie gelassen auf ihre Lebensstationen zurück. "Ich möchte nicht ein Stück davon missen, weil ich denke, es war alles ganz wichtig auf meinem Lebensweg und hat mich dahin geführt, wo ich jetzt bin." Auch sei es manchmal ganz praktisch im Leben, sagen zu können, mal Anwältin gewesen zu sein. Dass ihr selbst mit den Jahren Wurzeln gewachsen sind, merkt sie daran, dass sie Heimweh bekommt, wenn sie längere Zeit außerhalb von Wetzlar ist. Dort lebt sie die meiste Zeit im Jahr, ihre Labrador-Hündin Shira ist immer dabei.
Im Frühjahr, Winter und im Herbst reist sie für jeweils drei bis sechs Wochen in den Yellowstone-Nationalpark. Sie ist Herausgeberin und Chefredakteurin des Wolf-Magazins, schreibt Artikel und Bücher, hält Vorträge und Lesungen zum Thema "Wolf und Hund" und organisiert Wolfsreisen.
Anerkennung von anderen war ihr nie besonders wichtig. Trotzdem erreicht sie heute auch Post, die dürftig adressiert ist mit "Wolfsfrau aus Hessen". Kein Lebensmotto, sondern ein Jahresmotto trägt sie durch das Leben. Das ist meist etwas, was sie glaubt, noch lernen zu müssen: "Lebe gefährlich" oder "Einfachheit". Aktuell hat sie sich "Vertrauen" gewählt. Vertrauen in die Natur, dass auch verletzte Wölfe überleben und von ihrer Familie gesund gepflegt werden - und Vertrauen in das Leben.
Elli H. Radinger ist Autorin des Buches "Wolfsküsse – Mein Leben unter Wölfen" und lebt und arbeitet einen Großteil des Jahres im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in Wyoming.