Mohammad sitzt gedankenverloren am Tisch und bläst einen Ballon auf, um doch gleich die Luft wieder rauszulassen. "Komm, Mohammad", ermutigt ihn Sozialarbeiterin Nehal Qudemat, "lass dir dein Gesicht bunt anmalen." Mohammad will aber nicht, bläst weiter den Ballon auf, versucht, ihn zuzubinden und lässt wieder die Luft raus - Gruppentherapie in einer SOS-Traumaklinik auf Rädern im Wesjordanland.
Die mobile Klinik der SOS-Kinderdörfer ist eine Art Container auf Rädern, der alle paar Monate in eine andere Stadt gefahren wird. In den Wintermonaten steht sie in Hebron. Zweimal die Woche kommt eine Gruppe von Fünf- bis Siebenjährigen zusammen, um Geschichten zu hören, zu erzählen, zu malen oder mit Bausteinen zu spielen.
Mit Bart und Löwengesicht
Mohammads Freund Hussan hat schon einen farbigen Bart gemalt bekommen, und schließlich lässt sich auch Mohammad ein Löwengesicht ins Gesicht zeichnen. Gebannt hören die Kinder der Geschichte von einem Löwen und einer Gazelle zu, die die Sozialarbeiterin vorliest. "Wie brüllt ein Löwe?" fragt sie, und die Kinder knurren und fauchen. Einer der Jungen versucht, wie eine Gazelle zu springen. Zusammen mit einer Psychologin motiviert Nehal die Kinder, über das Märchen nachzudenken.
Jedes von ihnen ist auf irgendeine Weise traumatisiert. Gewalt in der Familie ist oft ein Grund, hinzu kommen Armut und bei den Kindern aus dem Zentrum Hebrons die täglichen Schikanen der israelischen Siedler. Auf den Fingernägeln beißen, Schlafstörungen, Inkontinenz sind nur einige Symptome. Das SOS-Team versucht, den Problemen gemeinsam mit den Familien auf den Grund zu gehen. Die mobile Trauma-Klinik hat auch ein Labor, um per Blut- und Urintest mögliche körperliche Krankheiten festzustellen.
Im Westjordanland und im Gazastreifen zusammen gibt es nur 17 psychiatrisch geschulte Fachärzte. Einer von ihnen ist Tawfiq Salman in der mobilen Trauma-Klinik. "In Israel praktizieren 1.200 Psychiater", sagt er mit Blick auf den Nachbarn. Jenseits der Mauer gebe es Spezialisten und Zentren für jedes Syndrom. "Bei uns muss jeder alles behandeln." Der 42-Jährige hat schon viel gesehen. Depressionen und Angstzustände sind sein Spezialgebiet. "Ich glaube, wir bräuchten 1.000 Psychiater und eine Million Psychologen", sagt er.
"Keiner wollte etwas davon hören"
Zwei Mal die Woche fährt er nach Hebron. An den übrigen Tagen ist er in Jericho, Ramallah oder Nablus. Erst Anfang des Jahres mussten zwei der sechs ständigen SOS-Trauma-Kliniken aus finanziellen Gründen schließen. Noch bis zum Herbst 2000, als die zweite Intifada begann, sei Psychologie unter den Palästinensern verpönt gewesen. "Keiner wollte etwas davon hören", erinnert sich Salman, der damals seine Ausbildung zum psychiatrischen Facharzt machte. Erst die große Gewalt habe ein Umdenken ausgelöst. "Wenn die Konflikte abkühlen, kommen die Symptome hoch." Die Menschen suchen dann verstärkt nach Halt und nach Hoffnung.
In den Medien, dem Gesundheitsministerium und bei den internationalen Hilfsorganisationen wurden die immer häufiger auftretenden Traumasymptome der Palästinenser endlich thematisiert. "Früher ließen sich die Leute auf religiöse Weise behandeln", berichtet Salman, "über einem Wasserbehälter beten und dreimal täglich daraus trinken, ist eine der sanfteren Formen." Heftiger gehe es bis heute bei sogenannten Geisteraustreibungen zu, bei denen die Kranken auch mal geschlagen würden. Das Stigma, dass nur Verrückte zum Psychiater gingen, aber lebe noch immer weiter. Für die meisten Familien sei es darum einfacher, ihre Kinder vorzuschicken.
Die Gründe für Traumatisierungen zu ändern, sei oft nicht möglich, räumt Salman ein. Aber man könne den Kindern helfen, besser mit Schwierigkeiten umzugehen. "Die Kinder brauchen Sicherheit und Zuneigung, aber die Familien sind oft überfordert." Noch immer weit verbreitet sei die Haltung, dass der Arzt das Problem schon regeln werde. Vor allem in ländlichen Gegenden, sagt Salman, "kommen die Mütter, bringen uns ihre Kinder und glauben, jetzt wird alles gut".
Das Mädchen mit den kaputten Schuhen
Während die Kinder in der Gruppentherapie in Hebron mit Lego bauen oder malen, empfängt Salman Patienten, die ein Rezept oder eine Überweisung brauchen. Ein junges Mädchen mit kaputten Turnschuhen, aus denen vorn die Zehen hervorgucken, kommt in Begleitung der Mutter und eines Bruders in den Untersuchungsraum und ergreift schüchtern die ausgestreckte Hand des Psychiaters. Ihre Eltern sind arbeitslos.
"Sie leidet an Epilepsie", erklärt Salman anschließend. Als die Leber die Medikamente nicht mehr aushielt, stellten die Ärzte die Tablettengabe ein. Ein paar Jahre sei das gut gegangen, aber jetzt brauche sie neue Medikamente. "Wir übernehmen die Kosten für Diagnose und Arzneimittel", sagt Salman. "Wenn es uns nicht gäbe, müsste die Familie selbst dafür aufkommen". Und das können im Westjordanland die wenigsten.