Krank und unversichert: Eine Sprechstunde für alle

Krank und unversichert: Eine Sprechstunde für alle
Seit zehn Jahren gibt es in Frankfurt die Internationalen Humanitären Sprechstunden. Ärzte helfen dort Menschen ohne Papiere und Krankenversicherung. Viele haben weit mehr Probleme als nur medizinische.
12.12.2011
Von Sandra Trauner

Philomena steht schwankend auf, stakst durch den Raum, sinkt auf den nächstgelegenen Stuhl, bettet den Kopf auf den Tisch und schläft ein. Ärztin und Krankenschwester sehen sich betroffen an. Die junge Dunkelhäutige ist Epileptikerin, nimmt aber ihre Medikamente nicht regelmäßig. Sie hustet stark, Verdacht auf Lungenentzündung. Das ganze Wochenende war Philomena Tag und Nacht unterwegs, denn sie hat keine Wohnung. An diesem Montagmorgen ist die Internationale Humanitäre Sprechstunde im Frankfurter Gesundheitsamt der einzige sichere Platz, den sie kennt.

In dieser Arztpraxis der etwas anderen Art bringt Philomena den Zeitplan gehörig durcheinander. Während sich das Team um sie kümmert, treffen im Vorzimmer immer neue Menschen aus Afrika und Osteuropa ein. Sie müssen heute noch länger warten als sonst. Die meisten haben keine Krankenversicherung, viele sind illegal im Land. Seit zehn Jahren finden solche Patienten in den Internationalen Humanitären Sprechstunden Hilfe. Dort fragt keiner nach ihren Papieren, die Beratung ist kostenlos, Medikamente zahlt das Sozialamt, für Operationen oder teuere Untersuchungen handeln die Mitarbeiter niedrigere Tarife in Kliniken aus.

Elend kommt, Elend geht

Die Tür geht auf, die Tür geht zu. Elend kommt, Elend geht. Krankenschwester Shirin Homa spricht mit einer älteren, übergewichtigen Frau aus Rumänien. Sie hat ein offenes Bein, braucht einen Stützstrumpf. Maßanfertigung - zu teuer. Von der Stange - passt nicht. Was tun? Die Laborwerte für ein afrikanisches Ehepaar im mittleren Alter sind da: Hepatitis C. "Beide hoch infektiös", sagt Uta Lanig-Anders, eine Ärztin, die als Honorarkraft mithilft. "Wie bringen wir das denen schonend bei?"

Die Arbeit wächst den Mitarbeitern langsam über den Kopf. Zwei Tage die Woche ist die Sprechstunde geöffnet, theoretisch von 8 bis 12, praktisch bis 17 Uhr. 2011 kamen rund 450 Patienten, die Statistik zählt 1.500 "Konsultationen". Nur Notfälle werden spontan behandelt, alle anderen müssen einen Termin vereinbaren. Als "Clearingstelle" fungiert der Verein Maisha, eine Hilfsorganisation für Frauen aus Afrika, mit der zusammen die Idee die Humanitären Sprechstunden im 2001 entstanden ist. Anfangs galt das Angebot nur für afrikanische Frauen, berichtet Sozialarbeiterin Virginia Wangare-Greiner, dann auch für Männer, seit 2009 dürfen auch Menschen aus Osteuropa kommen.

"In Afrika ist Krankheit eine Strafe"

Manche der Patienten sind legal in Deutschland, beispielsweise mit einem Touristenvisum wie das Paar mit Hepatitis, das seine Kinder in Frankfurt besucht, oder einem befristeten "Aufenthaltstitel" wie Philomena. Aber kaum einer hat eine Krankenversicherung, auch wenn er arbeitet - als "selbstständige" Blumenverkäufer oder Klofrauen können sie sich keine private Krankenversicherung leisten, gesetzlich versichert sind sie nicht. Sie vertrauen darauf, dass im Falles des Falles genug Geld da sein wird, um die Behandlung bar zu bezahlen.

Das reicht dann vielleicht für den Zahnarzt, aber nicht für eine lebenslange Dialyse. Die braucht ein Mann aus Simbabwe, bei dem letzte Woche Nierenversagen festgestellt wurde. Statt ins Krankenhaus ging der Mann zu einem Priester. Dieser steht nun in der Tür und berichtet von seinem Schützling. Man habe gebetet. Es sei schon viel besser. Nur noch müde. Der Mann will jetzt zurück nach Simbabwe. "Wenn er zurückgeht, stirbt er! Sagen Sie ihm das. Er ist jetzt ein Notfall. Er kann ins Krankenhaus. Er muss keine Papiere haben", erklärt die leitende Ärztin Petra Tiarks-Jungk dem Mittelsmann.

Die Sozialarbeiterin stammt selbst aus Afrika, sie kennt diese Reaktion nur zu gut: "In Afrika ist Krankheit eine Strafe." Man fragt nicht: Was kann man tun? Sondern: Was habe ich denn getan? Gerade die Patienten, die eine schwere Diagnose wie Aids bekommen, tauchen besonders oft unter und auch in der Humanitären Sprechstunde nicht wieder auf. Auch die Vorstellung, lebenslang Medikamente nehmen zu müssen, ist für viele unbegreiflich: Man nimmt eine Pille und dann ist man gesund, glauben sie fest. Mit dieser Vorstellung wird Diabetes schnell zu einer lebensbedrohlichen Krankheit. "Es ist eben viel Aufklärungsarbeit", sagt Tiarks-Jungk. "Das ist hier keine Fünf-Minuten-Medizin."

Psychische Krankheiten sind besonders häufig

Oft ist es sogar weit mehr als Medizin: Eine Frau, depressiv und kurz vor der Abschiebung, könnte im Land bleiben und weiter behandelt werden, würde der Vater ihres Kindes die Vaterschaft anerkennen. In solchen Fällen greifen die Helferinnen auch mal zu Brief und Telefon statt zum Rezeptblock. "Der soziale Status und die medizinische Situation sind oft eng verwoben", sagt die Ärztin. Neben körperlichen Symptomen wie Magengeschwüren oder Herzproblemen seien psychische Krankheiten besonders häufig. Ein möglicher Grund: der Stress. Kein Geld, keine Papiere, Angst vor Abschiebung und Polizei oder vor prügelnden Partnern oder ausbeuterischen Arbeitgebern.

Auch das "Betteln" um Unterstützung gehört zur Arbeit hier dazu: Welches Sanitätshaus gibt Heilmittel günstiger ab? Welches Facharzt-Vorzimmer ist kooperativ und welches nicht? Welche Klinik ist bereit, eine ambulante Geburt zu reduzierten Preisen anzubieten? 600 Euro müssen Schwangere dafür aufbringen, weniger als die Hälfte des üblichen Preises. 70 Kinder wurden 2011 auf diese Weise sicher im Kreissaal geboren statt riskant zu Hause.

Unbürokratische Hilfe

Auch manche Fachärzte helfen unbürokratisch - wie die Röntgenpraxis, zu der Philomena jetzt geht, um ihre Lunge untersuchen zu lassen. Zur Sicherheit soll eine Begleiterin mitgehen: Margit Lycka, eine ältere Dame mit langen weißen Löckchen, die als Krankenschwester in Afrika gearbeitet hat und jetzt ehrenamtlich die Rezeption der Humanitären Sprechstunden betreut. Als die beiden zurückkehren, ist ein Problem gelöst: Philomena hat keine Lungenentzündung - aber weiterhin einen Sack voller Probleme.

"Und was machen wir jetzt mit ihr?" fragen sich Ärztin und Sozialarbeiterin. Alle Heime, die sie aufnehmen könnten, hat sie schon durch. Überall ist sie rausgeflogen. "Sie hält sich einfach an keine Regeln." Als letzte Option bliebe das Obdachlosenwohnheim im Park. Alte betrunkenen Männer, eine junge, nicht unattraktive Schwarze, geistig ein bisschen zurückgeblieben: Den beiden ist nicht wohl dabei, aber sie haben nichts anderes anzubieten. Manchmal stößt die Möglichkeit zur Hilfe an ihre Grenzen.

Das Frankfurter Modell hat Schule gemacht. Am 13. Dezember 2001 fand die erste Sprechstunde statt - zehn Jahre später gibt es ähnliche Einrichtungen auch in Berlin, München, Hamburg, Bremen und anderen Städten. Sie sind wichtig, denn aus Angst vor Entdeckung nehmen die Menschen medizinische Hilfe, wenn überhaupt, zu spät in Anspruch. Manchmal sind sie - zum Beispiel durch ansteckende Krankheiten - auch eine Gefahr für die restliche Bevölkerung. Die Initiativen in den Großstädten beseitigen einen Mangel, den auch das Deutsche Institut für Menschenrechte 2007 in einem Report bemängelte: "Die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere in Deutschland ist defizitär."

dpa