Einen kurzen Augenblick war es still im Versammlungssaal der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin-Mitte. Ein Bundeswehroffizier aus dem Publikum war aufgestanden und hatte die versammelten Podiumsteilnehmer gefragt: "Was an dem, was in den letzten zehn Jahren in Afghanistan an Zivilgesellschaft aufgebaut wurde, ist nach dem Rückzug der ISAF im Jahr 2014 irreversibel?"
Stille.
Auf dem Podium starrte der frühere afghanische Geheimdienstchef Amrullah Saleh auf den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern. Die afghanische Parlamentsabgeordnete Shinkai Karokhail, ebenfalls Podiumsteilnehmerin, blickte spöttisch in die Runde, wer es mit dieser Frage wohl aufnehmen würde. Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Network verfinsterte seine Miene. Und Francesc Vendrell, früher EU-Sonderbeauftragter für Afghanistan, runzelte die Stirn.
Infrastruktur wird bald "zur Hölle gehen"
Nur der grüne Bundestagsabgeordnete und Menschenrechtsbeauftragte Tom Koenigs blickte nach kurzem Schweigen auf, holte tief Luft und sagte: "Die Denkweise der Afghanen ist eine andere. Die physische Infrastruktur wird bald zur Hölle gehen." (Er sagte wörtlich: "will go to hell soon".) Und dann: "Was in die Köpfe gesetzt ist, bleibt."
Die Heinrich-Böll-Stiftung, die politische Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen, hatte Ende November im Vorfeld der Petersberger Afghanistan-Konferenz etliche Vertreter des zivilgesellschaftlichen Prozesses in Afghanistan nach Berlin geladen – zu einer eigenen Konferenz. Ihr Titel: "10 Jahre nach Petersberg. Wo steht Afghanistan heute?" Die Antwort der Konferenzteilnehmer fiel überwiegend pessimistisch aus. Die Reaktion auf die Frage des Bundeswehrsoldaten während der ersten Diskussionsrunde auf dem Podium ist dafür nur ein Beispiel.
Die Konferenz sollte eine Bilanz des zehnjährigen internationalen Engagements in Afghanistan ziehen. Außerdem sollten Vertreter des zivilgesellschaftlichen Prozesses die Zukunftsaussichten des Landes diskutieren. Viel wurde abgerechnet mit den Fehlern des Westen: der Benachteiligung von Pashtunen, dem Hofieren von Warlords, den verlorenen Jahren nach der Vertreibung der Taliban, dem gezielten Töten von Talibanführern und so weiter. Die Liste des Versagens – nicht nur des Westens – scheint endlos.
Der Westen und die Warlords
Schließlich wurden Forderungen der afghanischen Zivilgesellschaft an die Petersberger Konferenz präsentiert: dass etwas gegen Korruptionsbekämpfung getan werden müsse, dass die Menschenrechte geschützt werden müssten, dass die Justiz unabhängig sein müsse, dass – westliche wie afghanische Politiker – Parlament und Regierung endlich einmal als demokratische Institutionen ernst nehmen müssten (und nicht immer mit den Warlords reden). Und so weiter. Forderungen wie diese zeigen vor allem eines: Wie desaströs die Situation am Hindukusch tatsächlich ist.
Es gab auch Lichtblicke während der Konferenz. Zum Beispiel, als die Programmleiterin des afghanischen Privatsenders Tolo TV Filmbeispiele aus ihrer Produktion vorführte: Nachrichtensendungen, die westlichen journalistischen Standards gerecht werden. Unterhaltungssendungen wie "Afghanistan sucht den Superstar", wo sich junge Frauen vor der Kamera etwas zutrauen. Late Night Shows mit westlich gekleideten Moderatorinnen und afghanischen Starlets. Komödien, eine von ihnen spielt in einem völlig chaotischen Ministerium. Sendungen wie diese erreichen bis zu 60 Prozent aller Afghanen. Zuschauer, vor allem aber Zuschauerinnen nehmen regen Anteil am Schicksal der Stars, lachen über Mächtige, bewundern afghanische Polizisten aus einer Krimiserie.
Die Programmleiterin erzählte auch von einem weiblichen Serienstar, die sich in diversen Folgen erfolgreich gegen sexuelle Belästigung wehrt, sich gegen eine Zwangsheirat durchsetzt, stattdessen ihre große Liebe findet – und die schließlich ein Junkie ermordet, genau derjenige Mann, dem sie einst von ihren Eltern versprochen worden war. Nach dem Tod des Stars – so berichtete die Programmleiterin von Tolo TV – hätten zahlreiche Frauen schluchzend beim Sender angerufen und geklagt, warum denn ausgerechnet ihr leuchtendes Vorbild, dieses starke Mädchen, habe sterben müssen.
Die Konferenz fiel insgesamt skeptisch aus. Aber – und auch diese Hoffnung schimmerte auf: Vielleicht hat Tom Koenigs ja doch recht, und zumindest etwas demokratisches Selbstbewusstsein, das zehn Jahre internationales Engagement in Afghanistan in die Köpfe der Menschen gesetzt hat, bleibt irreversibel bestehen.
Burkhard Weitz ist Redakteur beim evangelischen Monatsmagazin "chrismon" und Portalleiter von zivil.de.