Alle Tage Schicksalstage - Fortsetzung folgt

Alle Tage Schicksalstage - Fortsetzung folgt
Ein neuer Tag der Entscheidung für den Euro, für Angela Merkel und im Bundestag: Die Medien überschlagen sich in Dramatik - und das Publikum stumpft zusehends ab. Muss das so sein?
26.10.2011
Von Thomas Östreicher

"Abstimmung über Euro-Rettungsschirm: Europa blickt auf Merkel - scheitern ist verboten. Einigen sich die Euroländer an diesem Mittwoch nicht auf neue Hilfen für Griechenland, drohen der Weltwirtschaft heftige Turbulenzen." (sueddeutsche.de 26.10.2011)

"Die ganze Welt schaut auf die Kanzlerin. Am Mittwoch muss ihr Rettungskonzept durch den Bundestag. Dann tagt sie mit den Führern der Euro-Zone in Brüssel. Überall hofft man auf einen Durchbruch - denn eine Verschleppung der Hilfsmaßnahmen wäre ein schwerer Schlag für die Weltkonjunktur." (Spiegel Online 26.10.2011)

"Der Tag, an dem Europa gerettet werden soll: Es ist ein Schicksalstag, auf den die Welt ängstlich schaut: In Brüssel entscheiden die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder über die Zukunft Europas." (stern.de 26.10.2011)

"Schicksalstag für den Euro" (Focus Online, 26.10.2011)

"Europa" also blickt auf Angela Merkel. Beziehungsweise "die ganze Welt". Und wenn sie das gerade nicht tut, schaut die Welt auf den heutigen Tag, und zwar "ängstlich". Wenn die Behandlung der Finanz-, Banken-, Schulden-, Europa- und Eurokrise eines zeigt, dann wohl vor allem, dass die Journalisten nicht mehr wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Da wird in der Not ein Aufregerturm gebaut, der langsam die Dimensionen von Frank Schätzings Fahrstuhl ins All annimmt. Wer würde inzwischen noch einen Artikel lesen, wenn dessen Überschrift lautete "Regierungschefs ringen weiter um Euro-Rettung"?

Groteske Überhöhung

Es geht um Aufmerksamkeit für ein zweifellos wichtiges Thema, und um Aufmerksamkeit zu erlangen, muss die ganze Welt als groteske Überhöhung der Vorgänge herhalten. Ist es denn wirklich so, dass die Menschen in Peru, Lappland, Tasmanien, Kirgisien, Nepal, Guatemala oder in den meisten anderen der fast 200 Staaten der Erde auf Angela Merkel schauen, ängstlich obendrein?

Und was passiert, wenn "Europa" nicht "gerettet" wird? Verschwindet es dann von der Landkarte? Bedeckt Wasser die Fläche, die einmal ein Kontinent war? Kurz: Sterben wir alle? Nein, der Weltwirtschaft "drohen heftige Turbulenzen" lesen wir und gähnen. Als ob es die nicht die ganze Zeit schon gibt. Was aber da einzutreten droht, weiß in Wahrheit keiner.

Das wirklich Ärgerliche am hemmungslosen Endzeit-Getue ist, dass es sich selbst genügt. Denn was genau beschlossen wird, wen die Beschlüsse direkt betreffen und welche langfristigen Folgen sie zeitigen, verstehen selbst Experten nicht, und weder die angeblichen Börsenexperten in den Redaktionen noch tatsächliche oder vermeintliche politische Koryphäen und Finanzgenies wie der vielgelobte Peer Steinbrück (SPD) vermögen es dem zunehmend abgestumpften Publikum zu vermitteln. Die Berliner Abgeordneten, die alles mitentscheiden sollen, schon gar nicht.

Die Opposition stimmt in jedem Fall zu

Gleichzeitig wird die Chance auf eine wirkliche Kontrolle der vermeintlich unangreifbaren Finanzmärkte vertan. Wie wäre es beispielsweise damit, bestimmte Anlageformen wie etwa die Finanzmarkt-Wetten auf das Pleitegehen von Ländern schlicht zu verbieten, endlich eine wirksame Finanztransaktionssteuer einzuführen oder die Aufsicht der Geldhäuser konsequent auszubauen - bis hin zur Verstaatlichung von Banken, die ohnehin nur mit Steuergeldern überleben?

Für die Regierungspolitik sind grundlegende Maßnahmen über die Reparatur der Griechenland-Misere hinaus aber offenbar keine Erwägung wert, und für die Opposition steht die Bändigung der Finanzmärkte auch nur auf dem Papier. "Eigentlich haben sie unsere Zustimmung nicht verdient", hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier im Parlament zur Kanzlerin gesagt. Seine Konsequenz: Er stimmt ihr zu.

Rettet das Volk, nicht den Euro!

Reparatur statt Reform: Der Gedanke eines gemeinsamen Europas in Toleranz und friedlichem Miteinander war vor nicht allzu langer Zeit noch utopisch und ist selbst heute noch alles andere als selbstverständlich. Gerade in Zeiten, in denen der Einfluss nationaler Regierungen rapide schrumpft, verdient er es, bewahrt zu werden - zum Beispiel durch eine demokratisch legitimierte Gemeinschaftsregierung, die diesen Namen verdient.

Mal ausnahmsweise nicht den Euro, nicht die Banken, sondern das Volk vor den Finanzhasardeuren in den verglasten Vorstandsetagen zu retten, darüber würde in der Tat die ganze Welt staunen. Statt dessen sollen wir weiter mit Unterstützung hilfloser Medien ängstlich auf Angela Merkel schauen. Bis zum nächsten Schicksalstag.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.