Die Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im Bundestag galt vielen Beobachtern auch als Nagelprobe für die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP. Neben einer weit überwiegenden Mehrheit von Ja-Stimmen auch von SPD und Grünen erreichte der Gesetzesvorschlag die viel beschworene "Kanzlermehrheit" aus Stimmen der eigenen Gefolgsleute. Was das Ergebnis für die Regierung und die Regierungsparteien bedeutet, darüber sprach evangelisch.de mit dem Politologen Prof. Dr. Torsten Oppelland.
Herr Oppelland, war das heute ein Schicksalstag für die Bundesregierung?
Torsten Oppelland: Es war zumindest ein sehr wichtiger Tag. Wenn die Abstimmung schief gelaufen wäre, wäre es ein schwieriges Signal für die Position der Kanzlerin gewesen.
Hat die Regierung von Angela Merkel nun Zeit gewonnen?
Oppelland: Ja, in jeder Hinsicht. Zeit, um weniger die Probleme des Euro als die der verschuldeten Länder in den Griff zu kriegen, die Finanzmärkte zu beruhigen und insofern zu einer Entschärfung der Situation zu kommen. Und damit natürlich auch ihre Regierungsbilanz aufbessern zu können. Denn wenn Angela Merkel in zwei Jahren mit der Bilanz vor die Wähler tritt, dass die Krise im Wesentlichen überwunden ist, steht sie natürlich ganz anders da als in der jetzigen Situation, wo die im Grunde ja sehr guten Wirtschaftsdaten Deutschlands, insbesondere was die Arbeitslosigkeit betrifft, durch die ständigen Panikmeldungen völlig überlagert werden.
Wie kann die Regierung die gewonnene Zeit innenpolitisch nutzen?
Oppelland: Sie wird versuchen, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern. Und das hängt in erster Linie davon ab, ob sich die FDP stabilisieren kann. Darauf hat die Bundesregierung allerdings wenig Einfluss, vielleicht von dem einen oder anderen Zugeständnis in Sachen Steuererleichterungen abgesehen. Dazu scheint Finanzminister Schäuble aber nicht geneigt zu sein.
Was ist heute noch
rechts und links?
In jüngster Zeit wurde immer wieder über Neuwahlen im Bund spekuliert. Wie realistisch ist das?
Oppelland: Überhaupt nicht. Es hätte eine gewisse Perspektive gehabt, wenn die heutige Abstimmung aus Sicht der Regierung dramatisch schiefgegangen wäre. Das ist nicht passiert. Warum sollte die Regierung auch in der jetzigen Situation Neuwahlen anstreben? Keine der beteiligten Koalitionsparteien hätte dabei viel zu gewinnen. Im Gegenteil: Sie müssen jetzt versuchen, die restlichen zwei Jahre der Legislaturperiode durchzuhalten in der Hoffnung, dass sich ein Teil der Probleme bis dahin erledigt hat, sich die positiven Wirtschaftsdaten stärker auf die Umfragen auswirken und vor allem, dass der Hype um die Grünen sich zumindest etwas abflacht und dadurch die FDP wieder bessere Chancen hat - nicht nur in den Bundestag einzuziehen, sondern eventuell wieder gemeinsam mit der CDU die Bundesregierung zu stellen. Obwohl das im Moment sehr unwahrscheinlich erscheint.
Kann Angela Merkel, die ja auch CDU-Vorsitzende ist, die frühere Klientel rechts von der FDP überhaupt einbinden?
Oppelland: Was heißt rechts von der FDP? Das hängt davon ab, bei welchem Thema Sie rechts oder links definieren. Wenn Sie ihren Wirtschaftsliberalismus nehmen, ist die FDP durchaus rechts von der CDU angesiedelt. Das Problem ist eigentlich mehr, dass sich eigene Stammwählergruppen von der CDU nicht mehr vertreten fühlen.
Pragmatische Politik
um den Preis der Heimatlosigkeit
Gerade christliche-konservative Stimmen beklagen sich, dass sie keine politische Heimat mehr finden.
Oppelland: Das ist in der Tat ein Problem, für das aber auch keine Lösung erkennbar ist. Bei der Eurokrise ist eine vernünftige, praktikable Alternative zum Regierungskurs in der Tat schwer auszumachen. Dasselbe gilt für andere Themen auch. Stichwort Integration: Da man nicht mehr davon ausgehen kann, dass die "Gastarbeiter" irgendwann nach Hause gehen, muss man Integrationspolitik betreiben, dazu gibt es ebenfalls keine Alternative. Die Union kann da nicht auf Polemik à la Sarrazin setzen, das ist völlig unmöglich.
Beim Thema Wehrpflicht ist es genau dasselbe: Die ist eine Fiktion seit Anfang der Neunzigerjahre. Das Problem der Wehrungerechtigkeit wurde jetzt angepackt und in einer Weise gelöst, wie es bisher tatsächlich nicht den CDU-Programmen entsprach. Oder nehmen Sie die Familienpolitik: Auch da war, wie Angela Merkel am Sonntag bei Günther Jauch völlig zu recht sagte, Wahlfreiheit immer das Thema der CDU. Wenn sich die Generation, die jetzt Kinder kriegt, in stärkerem Maß für Berufstätigkeit entscheidet und Betreuungsangebote verlangt, dann müssen die eben geschaffen werden. Egal ob sich das mit dem Familienbild der ohnehin älteren Unionsmitglieder und -stammwähler verträgt. So können Sie die ganze Themenpalette durchgehen. Die Politik ist im Großen und Ganzen vernünftig und der Lage angemessen, auch wenn sie manchem CDU-Stammwähler nicht mehr sehr vertraut vorkommt.
Ist das ein neues Phänomen?
Oppelland: Im Grunde war es auch unter Helmut Kohl so, dass bei aller Kritik der "alten Herren" in der Union eine pragmatische Politik betrieben wurde. Der Unterschied ist aber, dass es damals noch Personen gab, die sozusagen symbolisch den konservativen Flügel eingefangen haben, Leute wie Heinrich Lummer, Alfred Dregger und einige andere. Die gibt es heute nicht mehr in der Form. Bei der jüngeren Generation des CDU-Führungspersonals ist vergleichbares nicht mehr zu sehen. Das Problem ist, dass die Unzufriedenen in der CDU zu Hause bleiben und nicht mehr wählen gehen. Diese Aufgabe bleibt und ist mit dem derzeitigen Personal nicht zu lösen. Damit muss man leben.
Die Deutschen haben
aus der Geschichte gelernt
Es gibt auch immer die Furcht vor Rechtspopulismus in Deutschland. Teilen Sie die?
Oppelland: Die Befürchtung ist verständlich, wenn man sich in unserer Nachbarschaft umschaut, aber ich sehe dazu gar keine Ansätze. Die Nagelprobe war jetzt gerade Berlin, wo die Integrationsproblematik quasi mit Händen zu greifen ist. Dort hatte sich eine CDU-Abspaltung mit dem Namen "Die Freiheit" gegründet, die bei der Wahl unter ferner liefen rangierten. Im Gegenteil hat sich vielmehr das linke Spektrum mit der Piratenpartei weiter ausdifferenziert.
Hat das mit der in Deutschland möglicherweise erhöhten Sensibilität für Rechtsaußen-Politiker zu tun?
Oppelland: Ich denke schon, dass das mit unserer Geschichte zu tun hat. Diese Positionen sind nach wie vor tabuisiert. Es gab mal kurze Phasen, in denen es den Republikanern gelungen ist, sich vom rechtsextremistischen Umfeld zu distanzieren und als wählbare Alternative zu erscheinen, aber das hat sich dann auch schnell erledigt. In Ostdeutschland ist es etwas anders, weil die NPD ihre Ressourcen darauf konzentriert hat und das Stammwählerpotenzial der etablierten Parteien ohnehin geringer ist. Die NPD hat mit dem Proteststimmen-Kurs ihre Chancen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich genutzt.
Noch einmal zurück zur Bundesregierung: Es ist gut möglich, dass die aktuelle Parlamentsentscheidung nicht die letzte zum Thema Euro bleiben wird, da künftig bei ähnlichen Fragen immer der Bundestag oder ein Ausschuss zustimmen muss. Wie viele "Schicksalstage" kann Angela Merkel noch politisch überleben?
Oppelland: Das ist eine schwierige Frage. Die Entwicklung in der Eurozone ist meines Erachtens nicht vorhersagbar. Es ist allerdings ein deutliches Signal, dass der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sagt, das war's jetzt, mehr geht nicht. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit, dass man weitere solcher Schicksalstage überhaupt riskieren kann, relativ gering.
Torsten Oppelland ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Jena.