Spiritual Care: "Man kann nicht nicht spirituell sein"

Spiritual Care: "Man kann nicht nicht spirituell sein"
Als erstes Studienfach dieser Art wurde in München im Herbst 2010 "Spiritual Care" eingerichtet – ein europaweit einzigartiges Projekt an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die Professur ist am Lehrstuhl für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Großhadern angesiedelt und wurde vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft finanziert. Sie teilen sich in ökumenischem Geist zwei Theologen: Traugott Roser, evangelischer Krankenhausseelsorger, und Eckhard Frick, Jesuit, Psychoanalytiker und Psychiater.
18.04.2011
Die Fragen stellte Petra Thorbrietz

Spiritual Care – ist das abgespeckte Seelsorge für Menschen, die keinen Glauben mehr haben?

Traugott Roser: Prinzipiell hat sie klassische Seelsorge einen Auftrag von den Kirchen her, letztlich von Jesus, die Kranken zu besuchen, auch die Sterbenden und Trauernden. Spiritual Care ist dagegen keine alleinige Domäne der Seelsorge, sondern eine Aufgaben verschiedenster Berufsgruppen, am besten im Verbund. Das wollen wir genauer verstehen, also erforschen. Wir erforschen ebenso interdisziplinär die Bedürfnisse von Menschen am Lebensende – das, was sie jenseits medizinischer Betreuung brauchen.

Eckhard Frick: Oskar Pfister, ein evangelischer Theologe, schrieb in seinem berühmten Briefwechsel mit Sigmund Freud: "Ohne Zweifel wird es ein außerkirchliches Seelsorgeramt geben, sogar ein nichtreligiöses. Wenn nur Menschen gut und glücklich gemacht werden, mit oder ohne Religion, wird der liebe Gott freundlich lächelnd dieser Arbeit zunicken."

Was ist das, was Menschen als Lebensende brauchen?

Roser: Wenn wir die Definition der Weltgesundheitsbehörde WHO ernst nehmen, bedeutet Palliativmedizin die "Verbesserung der Lebensqualität" durch Vorbeugung und Linderung von Leiden. Dazu gehören das Erkennen, die Beurteilung und die Behandlung von "Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur". Cicely Saunders, die englische Protagonistin der modernen Hospiz- und Palliativbewegung, hatte ja bereits das Konzept von "Total Pain" aufgestellt: Körperliche Schmerzen, sagte sie, sind von seelischen nicht zu trennen, deshalb müsse man sich auch um diese Dimension des Leidens kümmern. Das ist aber viel zu selten der Fall.

Ist das nicht Aufgabe der Medizin?

[listbox:title=Mehr zum Thema[Die Homepage des Studiengangs##Buchtipp: Eckhard Frick/Traugott Roser (Hg.), Spiritualität und Medizin: Gemeinsame Sorge um den kranken Menschen, erschienen im Kohlhammer Verlag Stuttgart]]

Frick: Im alten Griechenland waren nicht nur Ärzte, sondern auch Priester für die Behandlung von Krankheiten zuständig. Kranke erwarteten in Tempeln im Schlaf den Besuch der Götter. Hippokrates stand dann am Anfang einer rationalen, auf Erfahrung beruhenden Medizin und eines neuen Berufsstandes. In den mittelalterlichen Klöstern wurde die antike Heilkunde im wissenschaftlichen Sinn weiterentwickelt. Meditation wurde ein Teil der Medizin, die Ordensfrau Hildegard von Bingen entwickelte bereits eine Art Psychosomatik. Doch dann wurde ein Verbot für Priester erlassen, Arzt zu sein. Die Trennung zwischen Religion und Medizin, die auf Hippokrates zurückgeht, wurde kirchliches Gesetz. Im 20. Jahrhundert schrieb Karl Jaspers über den Beruf des Arztes, man solle diesen nicht mit den Aufgaben des Seelsorgers vermengen: "Das ärztlich Mögliche wird versäumt, das seelisch Begehrte nicht erreicht."

Roser: Spiritualität kann immer noch eine Aufgabe des Arztes oder des Seelsorgers sein, aber in der säkularen, manche sagen: postsäkularen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen kulturellen, religiösen und ethischen Gruppierungen ist ein einzelner Mensch mit einer solchen Aufgabe häufig überfordert, zumal, wenn ihm das Medizinsystem eigentlich keine Zeit für Begegnungen lässt. Die Pflegekräfte haben viel öfter Kontakt mit den Kranken und spielen eine wichtige Rolle. Uns ist zunächst einmal wichtig, dass in den Kliniken ein Bewusstsein für spirituelle Bedürfnisse wächst. Die Krankenhausseelsorge kann dann idealerweise eingebunden werden. Was im Einzelnen passiert, das muss aber letztlich der Patient entscheiden.

Weiß der denn überhaupt von seinen spirituellen Bedürfnissen?

Roser: Die Aufgabe von Spiritual Care ist ja gerade, die spirituellen Ressourcen, die jeder Mensch besitzt, freizulegen, im achtsamen Umgang mit der Individualität jedes Einzelnen, in der Achtung auch seiner jeweiligen Religion oder Überzeugungen. Das hilft ihm, seine Würde zu bewahren gegenüber dem Zugriff der Medizin.

"Der Patient hat

große Heilungserwartungen

an den Arzt"

 

Wie meinen Sie das?

Roser: Ein überwiegend naturwissenschaftlich geschulter Mediziner sieht die Laborwerte und fühlt sich moralisch verpflichtet, einen Schwerkranken aufzuklären, dass 'es keine Hoffnung mehr gibt'. Das bezieht sich dann auf die Hoffnung auf Heilung. Eine spirituelle Haltung kennt auch andere Formen und Ziele von Hoffnung. Hoffnung ist ein Wert an sich, der über die medizinisch korrekte Diagnose hinaus geht. Ich würde nie einem Menschen die Hoffnung nehmen, sondern mit ihm erkunden, worauf sich seine Hoffnung beziehen könnte. Zumal ein Schwerstkranker sich bereits in einer Dimension des Lebens befindet, die wir nicht kennen, solange wir sie nicht selbst erleben. Er hat uns etwas voraus – das ist uneinholbar. Einen Patienten spirituell zu begleiten, bedeutet auch, sich des eigenen Ortes im Leben bewusst zu sein.

Frick: Der Patient hat große Heilungserwartungen an den Arzt. Da sind viele Allmachtsphantasien im Spiel – von beiden Seiten. In der englischen Sprache unterscheidet man präziser zwischen "to cure", also: die Gesundheit vollständig wiederherstellen, und "to heal", heilen im Sinne von Ganzwerden. Letzteres umfasst eine spirituelle Dimension. Arzt und Patient müssen aushandeln, was "Heilung" für sie bedeutet – das kann auch eine Versöhnung mit der Endlichkeit sein. Dr palliative Gedanke ist endlich in der Medizin angekommen: "Palliativ" von "pallium" (Mantel) heißt, dass Leiden gelindert, erträglich gemacht wird, auch wenn die zu Grunde liegende Erkrankung "unheilbar" ist. Kürzlich wurde ich von der Gesellschaft für Multiple Sklerose eingeladen, einen Vortrag über "Heilung" zu halten – vor Menschen mit einer nach medizinischer Sicht unheilbaren Erkrankung. Heilung suchen auch Menschen mit unheilbaren oder chronischen Erkrankungen. Auch im christlichen Menschenbild ist Beseitigung von Krankheiten, so wichtig dies ist, nur ein vorletzter Wert.

Roser: Die Emanzipation von der Medizin führt zu einem strikt patientenorientierten Ansatz: Schmerz ist das, was der Patient fühlt, Lebensqualität das, was ihm wichtig ist, nicht was irgendwelche Statistiken für richtig halten. Wir lernen dabei vieles, was nicht in die Lehrbücher passt.

Zum Beispiel?

Roser: Wir betreuten eine Patientin, die sehr schwer krebskrank war und sehr religiös. Sie war monatelang in der Klinik, ihr Mann trennte sich von ihr, ihre Gebetsgruppe zog sich zurück, als es ihr nicht besser ging – sie war körperlich und sozial, psychisch und spirituell am Ende. Das ganze Team fragte sich: Was hält diese Frau noch im Leben? Kann sie noch beten? Was gibt ihr die Kraft zu kämpfen? Wir fanden keine Erklärung. Aber sie war dankbar für jede Zuwendung und schien daraus Stärke zu ziehen.

Frick: Das ist ein interessantes Thema unserer Forschung: spirituelle Resilienz. Es gibt Menschen, die widerstehen allen Schicksalsschlägen. Aaron Antonowsky hat das an Frauen untersucht, die das Konzentrationslager mit weit weniger negativen Folgen überstanden haben als andere. Mich interessiert, welche Rolle frühkindliche Bindungen am Lebensende spielen, ein wichtiges Thema in der Psychoanalyse. Warum finden manche Menschen Trost und andere nicht?

"Man muss die Erlaubnis

der Betroffenen haben,

zu führen"

 

Wie wichtig ist das Gespräch?

Roser: Das Wichtigste ist zu signalisieren: Ich bleibe bei Dir. Das braucht keine Worte. Aber Gespräche können natürlich helfen, auch den Angehörigen. Die Tochter einer alten Dame erzählte mir von ihren Ängsten: Sie konnte nicht schlafen, weil sie die Angst hatte, ihre Mutter könne sterben, wenn sie nicht bei ihr war. Ich fragte sie nach dem Zubettgeh-Ritual ihrer Kindheit. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter beim Hinausgehen aus ihrem Zimmer immer gesagt hatte, "morgen früh, wenn Gott will" – das war so ein Spiel, denn religiös war die Familie nicht. Ich schlug ihr vor, dieses Ritual nun umgekehrt bei ihrer Mutter anzuwenden, immer wenn sie sich abends von ihr verabschiedete. Sie tat das – und konnte wieder schlafen.

Letztlich ging es dabei doch um die Kraft eines Rituals?

Roser: Ja, genau wie auch kirchliche Rituale erlösend wirken können. Die geben häufig Orientierung für die Begleitung, auch bei nichtkirchlichen Menschen. Mit einem Patienten, der sehr esoterisch orientiert war, habe ich einmal Folgendes erlebt: Er war sehr unruhig, als müsse etwas aus ihm heraus. Seine ehemalige Freundin, die inzwischen einen anderen Partner hatte, kümmerte sich sehr um ihn, aber es gab immer wieder Konflikte deshalb. Irgendwann sprach ich das an und er entdeckte in sich den Wunsch, ihr seine guten Wünsche zu übertragen – für ihr Leben nach seinem Tod, mit dem neuen Partner. Er legte ihr in einem Ritual die Hand auf den Kopf, und alle Unruhe löste sich. Ich habe ihm dann schon gesagt, dass wir das kirchlich segnen nennen, aber das war ihm nicht wichtig. Er hat mit seiner Unruhe aktiv umgehen können zum Wohl anderer, das war wichtig.

Ohne Ihre Führung wäre das nicht passiert?

Roser: Man führt, aber man muss die Erlaubnis der Betroffenen haben, zu führen. Manche Menschen wollen zum Beispiel nicht über das Sterben reden. Das gesamte Palliative-Care-Team zerbrach sich bei einer Patientin den Kopf darüber, wie man das ansprechen könnte, da man glaubte, ein bewusster Abschied gehöre zum Leben. Diese Frau aber wollte bis zum letzten Moment nicht aufgeben. Sie war immer eine Kämpferin, sagten die Eltern. Das muss man so respektieren.

"Es gibt einen Hunger

nach Spiritualität"

 

Eine klassische Situation am Lebensende ist, dass Betroffene bitten: "Sagen Sie es meiner Frau nicht" und die dann vor der Tür sagt: "Bitte sagen Sie es meinem Mann nicht!" Wie geht man mit so etwas um?

Roser: Es ist jedenfalls kein Weg, einfach beiden die Wahrheit zu sagen und die Sorgen und Ängste zu ignorieren. Sensibler Umgang ist immer gefragt, von allen Berufsgruppen.

In Palliative-Care-Teams kümmern sich häufig Sozialarbeiter um die Angehörigen und die Beziehungen in einer Familie.

Roser: Wir arbeiten mit Sozialpädagogen zusammen. Ich habe mit Maria Wasner, die einen Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München hat, eine Studie über Sexualität am Lebensende gemacht. Sie hat gezeigt, wie wichtig körperlicher Kontakt zwischen Partnern ist, auch wenn die Möglichkeiten vielleicht eingeschränkt sind. Dazu kann man Menschen Mut machen, die in solchen Situationen Angst vor Nähe haben.

Frick: Unsere Frage war generell, wie man Spiritualität in ein Behandlungs- und Betreuungskonzept integrieren kann. Wir haben zum Beispiel ein teilstrukturiertes Interview entwickelt, mit dem zum Beispiel ein Arzt in fünf bis zehn Minuten einen Eindruck davon bekommen kann, welche spirituellen Ressourcen ein Patient hat und welche Bedürfnisse daraus entstehen könnten.

Roser: Spiritualität ist immer vorhanden. Wir können gar nicht NICHT spirituell sein. Eine Doktorandin untersucht zum Beispiel, welche spirituellen Themen bewusst und unbewusst bei der Betreuung sterbender Kinder eine Rolle spielen. Eine andere Studie widmet sich der jüdischen Tradition der Chewra Kadisha, einer Art religiöser Hospizbewegung durch Laien.

Frick: Es gibt einen Hunger nach Spiritualität in dieser Gesellschaft. Dieser braucht einen Ort, auch in der Wissenschaft.


Der Jesuit Eckhard Frick SJ, geboren 1955, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiater und Psychoanalytiker sowie Theologe und Philosoph. 1986, nach dem Studium, trat Frick der Gesellschaft Jesu bei, 1992 empfing er die Priesterweihe. Neben der gemeinsamen Professur mit Traugott Roser lehrt er weiterhin Psychosomatische Anthropologie an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München.

Traugott Roser, geboren 1964, studierte in Erlangen und München und erlangte seinen Master of Arts in Religion am "Lutheran Theological Seminary" in Gettysburg, USA. Der oberbayrische Pfarrer habilitierte an der LMU über das Fachgebiet Spiritual Care und ist seit vielen Jahren in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge mit den Schwerpunkten Palliativmedizin tätig. Neben der Professur ist er Seelsorger am Wohnstift Augustinum München-Neufriedenheim.