Viele bekennende Christen bestimmen die deutsche Politik

Viele bekennende Christen bestimmen die deutsche Politik
Gilt auch für die Politiker in Bund und Land noch, was der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, in seiner Pfingstbotschaft 2011 einfordert: "Pfingsten heute leben heißt, im Geiste Jesu in den entscheidenden Fragen unseres Lebens und unserer Gesellschaft Partei zu ergreifen, Stellung zu nehmen, für den Frieden und gegen Gewalt und Krieg auf allen Seiten einzustehen"? Zunehmend haben viele Bürger den Eindruck, das das Christliche im politischen und gesellschaftlichen Leben auf dem Rückzug ist. Doch der Blick täuscht, wirft man ihn auf die Politiker dieses Landes.
10.06.2011
Von K. Rüdiger Durth

Das mehrheitliche Nein der Berliner zu einem verpflichtenden Religionsunterricht an den allgemeinbildenden Schulen, das Pflichtfach Ethik im Land Brandenburg, der Streit um die Straffreiheit von Abtreibung nach Beratung, oder um die embryonale Stammzellforschung sowie um die Präimplantationsdiagnostik haben den Eindruck verstärkt, das Christliche sei auf dem Rückzug, wobei übersehen wird, dass dieser Streit oft quer durch die Kirchen geht.

Und wie das Ungeheuer von Loch Ness taucht immer wieder die Kritik am staatlichen Kirchensteuereinzug auf (an dem der Staat millionenschwer mitverdient) oder an kirchlichen Privilegien wie theologischen Fakultäten, kirchlichen Kindergärten (die sich freilich allein die rheinische Kirche pro Jahr über 50 Millionen Euro kosten lässt), Schulen und Krankenhäusern. Dabei haben sich selbst die Freien Demokraten längst von ihrem Programm freier Kirchen im freien Staat aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verabschiedet, das eine strikte Trennung von Staat und Kirche forderte.

Zurück zur Pfingstbotschaft 2011 des EKD-Ratsvorsitzenden: Viele verantwortliche Politiker bekennen sich offen zu ihrem christlichen Glauben, vom katholischen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert bis zur evangelischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (beide CDU). Viele ehemalige Bundespräsidenten waren kirchlich verankert, bis hin zum kirchlichen Amt: Gustav Heinemann war Präses der EKD-Synode, Carl Carsten war bekannt für seinen sonntäglichen Gottesdienstbesuch, Roman Herzog gehörte lange Zeit der Synode der EKD an, Richard von Weizsäcker war Kirchentagspräsident und Mitglied des Rates der EKD, Johannes Rau gehörte viele Jahre der Synode der rheinischen Landeskirche an und Horst Köhler ist regelmäßiger Gottesdienstbesucher und seine Frau Marie-Luise singt im Kirchenchor mit.

So viele Politiker im kirchlichen Nebenamt wie nirgendwo anders

Nun besagt die öffentlich eingeräumte Kirchenmitgliedschaft noch nicht viel über das tatsächliche kirchliche Engagement aus, ebenso wie umgekehrt das Verschweigen einer solchen Mitgliedschaft nicht gleich bedeutet, dass der Betreffende keine Kirche angehört. Von den 622 Abgeordneten des Deutschen Bundestages geben laut dem offiziellen "Kürschner" 190 an, katholisch zu sein. 177 sind evangelisch. Damit haben erstmals die Katholiken die Protestanten überholt (was an dem großen Wahlerfolg der Union und der schweren Niederlage der SPD liegt) 27 nennen sich konfessionslos, drei bekennen sich zum Islam, zwei geben an, atheistisch zu sein und 223 Abgeordnete, also fast jeder Dritte, verschweigt seine kirchliche beziehungsweise religiöse Identität.

Was bedeutet dies für die Christen in der Politik? Nicht viel. Denn in keinem anderen Land – einschließlich der USA – engagieren sich so viele verantwortliche Politiker nebenamtlich in kirchlichen Gremien wie in Deutschland. So ist die bündnisgrüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, Präses der Synode der EKD und war Präsidentin des 33. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden 2011. Ihr sozialdemokratischer Kollege Wolfgang Thierse gehört dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) an, zusammen mit dem FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler und dem baden-württembergischen bündnisgrünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.

Bundesverteidigungsminister Thomas de Maiziere (CDU) ist Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages, gleiches gilt für den Staatsminister im Bundeskanzleramt, Eckardt von Klaeden (CDU). CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe gehörte viele Jahre dem Rat der EKD an. Zwei seiner Vorgänger im Amt, Peter Hintze und Angela Merkel, waren Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der CDU/CDU. Heute ist Hintze, von Beruf evangelischer Pfarrer, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und zuständig für die Europäische Raumfahrt.

Beide großen Kirchen sind gern gesehene Gäste im Bundestag

Die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, Volker Kauder, und Frank-Walter Steinmeier (SPD) bekennen sich offen zu ihrer evangelischen Kirche. Der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck und sein ehemaliger nordrhein-westfälischer Kollege, der spätere Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, haben schon lange ihren evangelischen Kirchenaustritt rückgängig gemacht. Alle Parteien verfügen zumindest über christliche Arbeitsgruppen (einschließlich der Linken, von deren Bundestagsabgeordnete freilich 55 keine Angabe über ihre Konfession machen, 12 sich als konfessionslos bezeichnen und lediglich sieben ihre Kirchenzugehörigkeit öffentlich machen).

In den Ländern sieht das nicht viel anders aus. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) bekennt sich ebenso öffentlich zu ihrer evangelischen Kirche wie ihr rheinland-pfälzischer Kollege Kurt Beck (SPD) zu seiner katholischen. Und in Thüringen steht mit Christine Lieberknecht (CDU) sogar eine evangelische Pfarrerin dem Landeskabinett vor. Ihr sozialdemokratischer Vertreter Christof Matschie ist evangelischer Diplom-Theologe, und der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der Linke Bodo Ramelow, bekannt sich offen als evangelischer Christ. Und das in einem Land, in dem nicht einmal mehr ein Drittel der Bevölkerung einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft angehört.

Längst führen die beiden großen Volkskirchen regelmäßige Gespräche mit den Vorständen der Parteien im Deutschen Bundestag (außer mit den Linken). Hatte noch in den 80er Jahren der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Joseph Kardinal Höffner, das Tischtuch mit den Grünen für zerschnitten erklärt, so ist davon schon lange keine Rede mehr. Die Bevollmächtigen der beiden großen Kirchen sind gern gesehene Gespächspartner bei den Bundestagsabgeordneten, in den Ministerien und Parteien. Und es gibt auch keine Partei, die ernsthaft etwas an dem gegenwärtigen Miteinander von Staat und Kirche ändern möchte.

Sozial engagiert, mitgliedsstark, zutiefst verankert

Allein schon Caritas und Diakonie sind sozialpolitisch für die Gesellschaft unersetzlich. Immer mehr rückt auch der kulturelle Beitrag der Kirchen in das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, nicht zuletzt ihr musikalischer. Und dass die Kirchen über mehr Mitglieder als alle Parteien, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften zusammen verfügen, hat sich ebenso herumgesprochen wie die Tatsache, dass sonntags mehr Menschen die Gotteshäuser füllen als die Fußballstadien an Tagen der Bumdesliga.

Diese nur stichwortartig zusammengefassten Daten über das Engagement von Christen in der Politik zeigen, dass sich viele verantwortliche Menschen in den Parlamenten, Parteien und Ministerien bemühen, in den entscheidenden Fragen unseres Lebens und unserer Gesellschaft im Geiste Jesu Partei zu ergreifen und Stellung zu beziehen (EKD-Ratsvorsitzender Schneider).

Diese Politiker fühlen sich der Präambel des Grundgesetzes "In Verantwortung vor Gott und den Menschen" ebenso wie dem zutiefst christlichen Artikel 1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar" verantwortlich. So wird auch auf diesem Gebiet immer wieder Pfingsten lebendig. Die Kirchen antworten seit alters her für diesen Dienst mit ihrer gottesdienstlichen Bitte für die Obrigkeit - die in der Demokratie selbstverständlich immer auch die Opposition mit einbezieht.


K. Rüdiger Durth ist freier Autor und langjähriger Beobachter des politischen Geschehens.